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Illustration Interview

Folge der Pandemie: „Viele Selbstständige wandern in Festanstellungen ab“

Selbstständige haben unter der Corona-Pandemie gelitten. Wie die Selbstständigkeit resistenter wird, erklärt Arbeitsmarkt-Forscher Alexander Kritikos.

Die Corona-Pandemie hat insbesondere Selbstständige hart getroffen: Ihnen brachen je nach Branche bis zu 100 Prozent der Einkünfte weg. Die Politik reagierte mit Hilfsprogrammen. Warum diese teilweise für Unmut sorgten und was das für die Zukunft der Selbstständigkeit bedeuten könnte, erklärt Arbeitsmarkt-Forscher Alexander Kritikos.

(Solo-)Selbstständige waren besonders von der Corona-Krise betroffen. Viele fühlten sich im Stich gelassen – wie sehen Sie das als Arbeitsmarkt-Experte?

Alexander Kritikos: Nach der Ankündigung aus der Politik, es werde „niemand fallen gelassen“, hat sich unter vielen Selbstständigen Enttäuschung breitgemacht. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen wurden die Corona-Hilfen zwar zügig aufgelegt, aber auch restringiert: Das Geld deckte beispielsweise nur die fixen Betriebskosten ab – dabei haben gerade Solo-Selbstständige  häufig gar keine fixen Betriebskosten. Und jenen, deren Einkünfte um bis zu 100 Prozent weggebrochen waren, half die Deckung der Fixkosten nicht weiter.

Was viele nicht wissen: Selbstständige Frauen hatten während der Pandemie stärkere Einkommensverluste als Männer. Von den weiblichen Selbstständigen waren 63 Prozent von der Pandemie betroffen, während es bei den männlichen nur 50 Prozent waren. Das liegt daran, dass erstere häufiger in Branchen tätig sind, die unter den Beschränkungen am meisten gelitten haben: etwa im Bereich körpernahe Dienstleistungen wie Friseurgeschäfte, im Gast- und Hotelgewerbe, in Gesundheitsberufen oder in Kindergärten. 

Alexander Kritikos
© DIW - Alexander Kritikos

Die Politik hat als Reaktion auf den Unmut auch den Zugang zum Arbeitslosengeld II erleichtert. Hat das geholfen?

Kritikos: Das kam bei vielen nicht gut an: Es handelte sich schließlich nicht um eine individuelle Arbeitslosigkeit, sondern um eine Pandemie mit systemischen Folgen. Außerdem konnte das abstrakte Versprechen auf Arbeitslosengeld in der Realität häufig gar nicht eingelöst werden – etwa, weil die Selbstständigen formell „Vermögen“ besaßen, das sie nicht auflösen konnten, weil sie es für ihre Tätigkeit brauchten, beispielsweise teure Kameras.

Die Hilfen konnten also nicht zu einer nachhaltigen Stabilisierung beitragen. Das lag nicht zuletzt auch an der Vielzahl der unterschiedlichen Programme: Zunächst kam die Soforthilfe, dann die Überbrückungshilfe 1, 2 und 3 und die Neustart-Hilfe. Jede hatte andere Regeln und Zugangsvoraussetzungen. Das hat nur zusätzliche Unsicherheit geschürt und den negativen Effekt verstärkt.

Welche Lehren sollte die Politik hieraus für den Umgang mit künftigen vergleichbaren Krisensituationen ziehen?

Kritikos: Sollten in Zukunft erneute Absicherungsmaßnahmen für Selbstständige erforderlich werden, braucht es Verlässlichkeit und Verbindlichkeit in Form eines kontinuierlichen Programms. Die Erfahrung dafür haben wir jetzt. Ich bin zudem ein großer Fan des englischen Modells der Absicherung. Dabei werden die jetzigen Umsätze eines jeden Monats mit einer Periode vor der Pandemie verglichen; die Daten liegen dem Finanzamt vor. So kann ein Anteil der verlorenen Umsätze monatsgetreu ersetzt werden – wie hoch dieser Anteil gesetzt wird, muss man den jeweiligen Umständen entsprechend debattieren. Das Modell kann bei allen Firmen Anwendung finden, die monatliche Umsatz-Abgaben machen. Folglich kommt dieses Modell auch nur für die zum Tragen, die echte Umsatzeinbußen haben. Das ist aus meiner Sicht die zielgenaueste Krisen-Hilfe.

Alexander Kritikos

DIW

Prof. Dr. Alexander Kritikos ist wissenschaftliches Mitglied im Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Seit 2011 ist er als Forschungsdirektor der Querschnittsgruppe „Entrepreneurship“ tätig. Er hat eine Professur für Industrie- und Institutionenökonomie an der Universität Potsdam inne und ist Research Fellow am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn, sowie am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg.

Gibt es jenseits der Corona-bedingten Effekte lessons learned für die Absicherung von Selbstständigen in der Zukunft?

Kritikos: Man muss sich Gedanken darüber machen, wie die Altersabsicherung für Selbstständige jenseits möglicher Pflichtversicherungen ergänzt werden kann. Wer nicht in der Künstlersozialkasse (KSK) oder in einer berufsständischen Versicherung wie der für Ärzte oder Steuerberater ist, kann derzeit als Solo-Selbstständiger nur mit einer Rürup-Rente oder einer Kapitallebensversicherung für das Alter vorsorgen, oder bei entsprechendem Einkommen zum Beispiel Aktien oder Immobilien kaufen. Aus meiner Sicht ist hier eine bessere Anreizsetzung wichtig, also eine freiwillige Rentenversicherung für Solo-Selbstständige. Wenn die Konditionen attraktiv sind, liegt es im Eigeninteresse der Selbstständigen, das Angebot für sich zu nutzen. Zum Beispiel könnte das bestehende System in Richtung KSK weiterentwickelt werden. Ein umlagefinanziertes Modell ähnlich der KSK wäre daher eine wichtige Ergänzung.

Wie lautet Ihre Prognose für die Zukunft der Selbstständigkeit: Inwiefern werden sich jetzt mehr Selbstständige in Richtung einer Festanstellung orientieren? Und wird das branchenübergreifend geschehen? 

Kritikos: Wir haben erste Zahlen, die darauf hinweisen, dass diese Umorientierung schon passiert. Normalerweise haben wir im Bereich der Selbstständigen jedes Jahr eine Fluktuation von 10 Prozent: 10 Prozent kommen neu hinzu, 10 Prozent verlassen die Selbstständigkeit. Dieses Jahr geben weitere 10 Prozent ihre Selbständigkeit auf – also insgesamt 20 Prozent. Sie gehen teils in abhängige Beschäftigung, teils aber leider auch in die Grundsicherung.

Der Blick in die Branchen zeigt: Es gibt auch Märkte, die gut liefen, wie der digitale Bereich. In den Bereichen der Gastronomie und Eventmanagement hingegen war die Abwanderung sehr groß, hier dürfte die Entwicklung in der nächsten Zeit rückläufig bleiben.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Krise werden sich manche Selbständigen fragen, ob diese Erwerbsform noch eine gute Wahl ist. Vor allem Frauen werden sich diese Frage häufiger stellen, da bei ihnen die krisenbedingten Belastungen sehr hoch waren.

Inwiefern ist es problematisch, dass viele Gründungen durch die Corona-Pandemie – teilweise auf unbestimmte Zeit – verschoben worden sind? Was bedeutet das für die deutsche Wirtschaft?

Kritikos: Die Menschen in den von der Krise betroffenen Branchen sind zum Teil verunsichert, haben Gründungen verschoben oder ganz darauf verzichtet, zu gründen. Für die betroffenen Sektoren bedeutet das: Weniger Angebot, weniger Wettbewerb und Innovation. Und damit letzten Endes weniger Jobs in diesen Bereichen. Die Märkte müssen sich neu sortieren. Aber wie zum Beispiel in der Eventbranche ist es in vielen Bereichen noch völlig unklar, wie sich die Märkte entwickeln werden.

Was könnte als Strategie dagegen helfen?

Kritikos: Gründungen müssen gefördert werden. Der Gründungszuschuss, den es in einer sehr abgespeckten Form über die Bundesagentur für Arbeit immer noch gibt, muss mit weiteren Finanzmitteln bzw. -quellen aufgestockt werden. Das könnte ehemalige Selbstständige zu einem Neustart motivieren und zögerlichen Gründern Sicherheit geben.

Die finanzielle Unterstützung ist in der Anfangsphase besonders wichtig. Unternehmen generieren zu diesem Zeitpunkt selten ausreichend Einkünfte, da sie sich noch nicht auf dem Markt etabliert haben.

Inwiefern werden auch künftige Megatrends wie die Digitalisierung den Trend wieder umkehren, sodass die Zahl der Unternehmensgründungen langfristig wieder steigt?

Kritikos: Das Fortschreiten der Digitalisierung wird zukünftig Unternehmensgründungen hoffentlich vereinfachen. Darüber hinaus gilt aber: Wer ein unternehmensfreundliches Umfeld bereiten möchte, benötigt die richtigen Strukturen dafür. Stichwörter sind neben einer digitalen Infrastruktur und einer verbesserten digitalen Ausbildung verschiedene weitere Rahmenbedingungen. In diesen Bereichen hat Deutschland noch viel Aufholbedarf. Um digitale Unternehmen zu unterstützen, braucht es zum Beispiel dringend einen Bürokratieabbau, der bereits seit Jahren versprochen wird, aber nicht so richtig vorankommt. Dadurch könnten Unternehmen zukünftig flexibler agieren und besser mit Krisensituationen umgehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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