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Illustration Interview

„Dies eröffnet den Betrieben und Beschäftigten einen weiten Spielraum“

Arbeitszeit wird nicht nur flexibler, sondern auch individueller. Dafür biete die EU-Arbeitszeitrichtlinie einige Vorteile gegenüber des deutschen Gesetzes.

Die Arbeitszeit der Zukunft wird nicht nur flexibler, sondern auch individueller, sagt Sven Hille, Leiter des Fachbereichs Arbeitszeit und Vergütung am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft in Düsseldorf. Die jetzigen deutschen Arbeitsschutzgesetze reichen nicht mehr aus. Hoffnung verspricht hingegen die neue EU-Arbeitszeitrichtlinie.

Welche Vorteile hat aus Ihrer Sicht die EU-Arbeitszeitrichtlinie im Vergleich zum in Deutschland geltenden Arbeitszeitgesetz?

Sven Hille: Da sind einige Vorteile zu nennen: Der wichtigste Vorteil ist, dass der Spielraum besser genutzt werden kann, den die EU-Arbeitszeitrichtlinie den Mitgliedstaaten bei der Gestaltung der Arbeitszeit ermöglicht. Der erste Schritt wäre von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umzustellen. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, die Höchstarbeitszeit nicht auf den Tag, sondern auf die Woche zu beziehen. Dabei wird die individualvertraglich oder tarifvertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit nicht verändert. Diese Umstellung bedeutet nicht, dass die Beschäftigten mehr oder länger arbeiten werden, sondern im Einzelfall kann die Arbeitszeit variabler und bedarfsgerechter verteilt werden. Einerseits unterstützt diese Anpassung die Betriebe auf Auftragsschwankungen besser zu reagieren und andererseits ermöglicht sie den Beschäftigten eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, wenn zum Beispiel die Beschäftigten aus beruflichen oder familiären Gründen die Arbeit früher beenden oder unterbrechen und dafür an anderen Tagen länger arbeiten möchten.

Sven Hille
© ifaa, Sven Hille

Ein weiteres Thema ist die Ruhezeitregelung. Das deutsche Arbeitszeitgesetz sieht vor, dass die Beschäftigten nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben müssen. Wenn die Beschäftigten zum Bespiel wegen der Betreuung eines erkrankten Kindes oder wegen eines wichtigen Arzttermins die Arbeit früher beenden und dafür abends von zu Hause arbeiten, beginnt die Ruhezeitregelung erneut neu. Demgegenüber sieht die EU-Arbeitszeitrichtlinie Ausnahmen vor: So kann durch Tarifverträge oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene, die Ruhezeit um bis zu zwei Stunden verkürzt werden, wenn die Art der Arbeit dies erfordert und die Kürzung der Ruhezeit innerhalb eines festzulegenden Ausgleichszeitraums ausgeglichen wird. Dies eröffnet den Betrieben und Beschäftigten einen weiten Spielraum. Vor diesem Hintergrund kann zum Beispiel eine gesetzliche Anpassung so ausgestaltet werden, dass eine Öffnungsklausel zumindest für Beschäftigte, die die Lage der Arbeitszeit selbst bestimmen, kollektiv geregelt wird. Die Ruhezeit könnte in solchen Fällen, mit entsprechenden Ausgleichszeiträumen, auf bis zu neun Stunden gekürzt werden. Diese Anpassung bringt Vorteile für die Beschäftigten, die bei Bedarf abends von zu Hause arbeiten möchten. Dadurch erhalten sie in ihrer Arbeitszeitgestaltung mehr Souveränität. Für die Unternehmen bedeutet das eine gewisse Rechtssicherheit. Das Lesen von E-Mails oder ein kurzer Blick auf den Terminkalender würde nicht zur Ruhezeitunterbrechung führen.

Auch die Regelungen zur Aufzeichnungspflicht sollte in Anlehnung an die EU-Arbeitszeitrichtlinie überarbeitet und angepasst werden. Das deutsche Arbeitszeitgesetz verpflichtet die Arbeitgeber, die über die werktägliche Arbeitszeit im Sinne von § 3 S. 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Mit einem Urteil vom 14. Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche sowie gesamte Arbeitszeit der Beschäftigten lückenlos und systematisch erfasst, dokumentiert und gemessen werden kann. Durch diese Verpflichtung zur aktiven Zeiterfassung wird die Flexibilität stark eingegrenzt. Dazu kommt der hohe bürokratische Aufwand, den eine lückenlose Arbeitszeiterfassung eines jeden Beschäftigten mit sich bringt.Dies dürfte vor allem bei flexibler und insbesondere bei orts- und zeitflexibler Arbeit häufig schwierig sein, da die orts- und zeitflexibel arbeitenden Beschäftigten sehr autonom sind und selbst entscheiden wollen, wann, wie lange und an welchen Orten gearbeitet wird. Umso mehr steht die oben genannte Verpflichtung in der betrieblichen Realität flexiblen Arbeitszeitmodellen entgegen, welche die Festlegung der Arbeitszeit weitgehend den Beschäftigten überlassen, wie zum Beispiel „Vertrauensarbeitszeit“ oder „Homeoffice“. Gerade für solche oder ähnliche Arbeitszeitmodelle, welche bei den Beschäftigten sehr beliebt sind, sollte es den Arbeitgebern möglich sein, die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit auf die Beschäftigten zu delegieren und den bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten. 

Sven Hille

Sven Hille

Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa)

Sven Hille leitet seit 2015 den Fachbereich Arbeitszeit und Vergütung am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) in Düsseldorf. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen: Entgeltgestaltung, Anreiz- und Vergütungssysteme, Datenermittlung, Arbeitswelt der Zukunft.

Die Statistiken zeigen es: Arbeitszeiten werden im Durchschnitt immer flexibler, dennoch gibt es den Wunsch nach der Reform des Arbeitszeitgesetzes – warum reichen die bestehenden Flexibilitätsmaßnahmen aus Ihrer Sicht nicht aus?

Hille: Die Arbeitszeit der Zukunft wird nicht nur flexibler, sondern auch individueller. Zu beobachten ist, dass das Bedürfnis der Beschäftigten nach bedarfsgerechten und flexiblen Arbeitszeitmodellen, mit denen sie den Beruf und das Privatleben besser in Einklang bringen können, zunimmt. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Wertewandels brauchen wir hier Anpassungen des Arbeitszeitgesetzes. Eine Bitkom-Studie aus dem Jahre 2019 zeigt die Erwartungshaltung der Beschäftigten. Zufolge dieser Studie wünschen sich deutsche Berufstätige mehr Selbstverwirklichung im Job. 96 % wünschen sich, ihre Arbeitszeit frei einteilen zu können und 82 % wollen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf- und Privatleben. Knapp zwei Drittel (63 %) befürworten gelockerte Regelungen zum Arbeitsschutz  , um orts- und zeitflexible Arbeit zu erleichtern. 58 % wünschen sich die Umstellung von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit.

Dadurch werden zeitliche und räumliche Grenzen von Arbeit aufgelöst und der klassische „Nine-to-five-Job″ wird für zahlreiche Beschäftigte immer mehr zum Auslaufmodell. Aber die aktuellen gesetzlichen Regelungen in Deutschland gehen von einem Normalarbeitszeit-Standard aus. Dieser Normalarbeitszeit-Standard hat normative Regelungen für Arbeitszeit, Ruhezeit und Erholzeit mit festen Grenzen und Übergängen sowie mit Orten, an denen entweder gearbeitet oder nicht gearbeitet wird. Diese Regelungen konterkarieren die Belange und Wünsche der Beschäftigten, die den Gewinn an zeitlicher Flexibilität als eine substanzielle Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sehen. Wie oben skizziert, können die aktuellen Regelungen des deutschen Arbeitszeitgesetzes, die die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden zugrunde legt, diesen Wünschen bzw. Bedarfen nicht gerecht werden. Insbesondere dann nicht, wenn die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten selbständig gestalten möchten.

Was bedeutet die Flexibilisierung der Arbeitszeiten für den Arbeitsschutz und wie können die hohen Standards im Arbeitsschutz bewahrt werden?

Hille: Durch die Entwicklungen, die ich oben dargestellt habe, verändern sich auch die Anforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz  . Zudem wird die praktische Umsetzung der Regelungen insbesondere bei orts- und zeitflexibler Arbeit immer komplexer. Unumstritten ist, dass der „klassische“ Arbeitsschutz auch in Zukunft eine wichtige Grundlage für einen wirksamen Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bilden wird. Nach wie vor gehört es zu den Grundpflichten eines Arbeitgebers, die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für Leben und Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird. Gleichzeitig muss bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit sowie des Arbeitsortes die Eigenverantwortung der Beschäftigten gestärkt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Beschäftigten selbst entscheiden, wann, wie lange und gegebenenfalls, wo sie arbeiten. Die Beschäftigten trifft in jedem Fall eine höhere Eigenverantwortung, die eigenen Belastungsfaktoren realistisch einzuschätzen und zeit- und ortsflexible Arbeit so zu organisieren, dass Belastungen, die ungünstige Beanspruchungsfolgen begünstigen, möglichst vermieden werden. Diese Pflicht zur Mitwirkung lässt sich aus § 15 Abs. 1 ArbSchG ableiten, wo es heißt: „Die Beschäftigten sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten sowie gemäß der Unterweisung und Weisung des Arbeitgebers für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen.“

Allerdings zeigen aktuelle Studien, dass die neuen Gegebenheiten mit den aktuellen Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes kollidieren können. So können Gewinne hinsichtlich Flexibilität, Autonomie und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben neuen Anforderungen gegenüberstehen, die auch psychische Belastungen zur Folge haben können. Eine Möglichkeit gegenzusteuern, wäre, die Beschäftigten mit ihren Erfahrungen und ihrem Fachwissen mehr in die gesundheitsgerechte Arbeitszeitgestaltung einzubeziehen, da auch der Arbeitsschutz wie andere Aufgaben, immer mehr in die Verantwortung der Betroffenen übergehen wird. Denn gerade die orts- und zeitflexible Arbeit setzt der Überwachung durch den Arbeitgeber, Aufsichtsbehörden und Aufsichtspersonen naturgemäß gewisse Grenzen. Der Arbeitgeber hat nur begrenzte Rechte und Möglichkeiten, die Arbeitsumgebung im Privatbereich der Beschäftigten oder an mobilen Arbeitsplätzen zu bestimmen, zu beeinflussen und wird daher diese komplexe Aufgabe nicht allein lösen können. Hier sind intelligente und pragmatische Maßnahmen gefragt, die auf einer Vertrauenskultur und vor allem auch auf einem hohen Maß an Eigenverantwortung der Beschäftigten für ihre Gesundheit und den Erhalt der Leistungsfähigkeit fußen.

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