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Illustration Interview

„Kultur des Frühausstiegs dauert an“: Wann und warum Beschäftigte in Rente gehen wollen

Die lidA-Studie untersucht, was Beschäftigte motiviert, das Berufsleben vor dem gesetzlichen Rentenalter zu verlassen – und unter welchen Voraussetzungen sie davon absehen würden. In ihrem Gastbeitrag erläutern Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn und Dr. Melanie Ebener vom Fachbereich Arbeitswissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal die jüngsten Erkenntnisse.

  • Wann und mit welcher Motivation scheiden Beschäftigte aus dem Arbeitsleben aus? Eine höchst individuelle Entscheidung – mit weitreichenden Folgen für den Arbeitsmarkt
  • Die sogenannte lidA-Kohortenstudie zeigt: Die Mehrheit der Befragten möchte nicht bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze mit dem Start in den Ruhestand warten
  • Warum das so ist und was sich ändern müsste, damit sich Beschäftigte dies noch einmal überlegen, erläutern Univ.-Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn und Dr. phil. Dipl.-Psych. Melanie Ebener vom Fachbereich Arbeitswissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal
© Bergische Universität Wuppertal - Melanie Ebener

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels blickt die Forschung verstärkt darauf, wann und warum Menschen das Erwerbsleben verlassen. Aus diesem Grund begleitet die lidA-Studie seit zwölf Jahren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf ihrem Weg von der Arbeit in den Ruhestand. Die Teilnehmenden sind nach dem Zufallsprinzip aus den Daten der Bundesagentur für Arbeit gezogen worden. Etwa alle vier Jahre werden sie zu ihrer Arbeit, ihrem Privatleben und ihrer Gesundheit befragt. Anhand der Antworten werden vielfältige Themen wie berufliche Wechsel, Rehabilitation oder auch Folgen digitalisierter Arbeit untersucht. 

In der letzten Befragung, die 2022/2023 stattfand, gaben knapp 9.000 Personen aus ganz Deutschland in Interviews Auskunft. Sie gehören den Geburtsjahrgängen 1971, 1965 und 1959 an, was es ermöglicht, verschiedene „Generationen“ miteinander zu vergleichen.  

© Bergische Universität Wuppertal - Hans Martin Hasselhorn

Gewünschtes Rentenalter

Das gewünschte Rentenalter liegt im Durchschnitt bei 63,2 Jahren

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die deutliche Mehrheit der Befragten nicht bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten möchte, sondern im Mittel nur bis zum Alter von 63,2 Jahren. Der älteste Jahrgang würde dabei im Durchschnitt gern anderthalb bis zwei Jahre länger arbeiten als die jüngeren Jahrgänge. Dies liegt aber nicht unbedingt daran, dass die Ältesten an sich eine andere Einstellung haben: Aus verschiedenen Längsschnittuntersuchungen ist schon bekannt, dass Erwerbstätige  im Lauf der Zeit ihr gewünschtes Rentenalter nach oben korrigieren. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass der Zeitraum, den sie abschätzen müssen, für sie überschaubarer geworden ist. 

Würde man nur Durchschnittswerte betrachten, würde ein interessanter Effekt verschleiert: dass nämlich im jüngsten Jahrgang (1971 geboren) mit 13 Prozent etwas mehr Personen gerne bis zum Alter von 66 arbeiten würden als im mittleren Jahrgang (1965 geboren) mit zehn Prozent. Vielleicht spiegelt sich darin bei einem (allerdings noch sehr kleinen) Teil des jüngsten Jahrgangs bereits eine gedankliche Anpassung an die erhöhte Regelaltersgrenze wider. 

Die Teilnehmenden wurden außerdem gefragt, wie lange sie meinen, arbeiten zu können. Im Mittel geben sie das Alter von 65,7 Jahren an. Im Gruppen-Durchschnitt ist also die Zuversicht, die Arbeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt noch zu schaffen, ausgeprägter als der Wunsch, bis dahin zu arbeiten. Dies kann dennoch bei einzelnen Personen umgekehrt ausfallen! Besonders deutlich wird der Unterschied von Wollen und Können mit Blick auf das Ausstiegsalter von 65 Jahren: bis dahin würden zum Beispiel im ältesten Jahrgang nur noch 42 Prozent gerne arbeiten, während 70 Prozent meinen, es dann noch zu können. 

Dargestellt werden die Gründe für einen Frühausstieg aus dem Erwerbsleben von älteren Beschäftigten, die bis max. 64 Jahre arbeiten möchten. Konkret wird der prozentuale Anteil der Nennungen für die Gründe dargestellt, die in der zugrundeliegenden Befragung als sehr wichtig angekreuzt wurden („Dieser Grund spielt eine große Rolle“).

Hauptgrund für den frühen Renteneintritt

„Mehr freie Zeit“ zu haben ist Hauptgrund für den frühen Renteneintritt

Zwei Drittel der Befragten gaben an, vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand gehen zu wollen. Sie wurden gefragt, ob dafür bestimmte Gründe bei ihnen eine Rolle spielten (s. Abb. 1). 

„Mehr freie Zeit“ zu haben, spielte (mit Zustimmung bei 83 Prozent der Befragten) die wichtigste Rolle. Darauf folgt „irgendwann muss Schluss sein” mit 64 Prozent Zustimmung. Für die Hälfte der Befragten ist bedeutend, dass zum gewünschten Zeitpunkt eine „ausreichende finanzielle Absicherung” erreicht ist, wobei nur für 36 Prozent die Möglichkeit der „abschlagsfreien Altersrente” eine große Rolle spielt.  

Während „anstrengende Arbeit” und „gesundheitliche Probleme” für etwa vier von zehn Personen hier bedeutend sind, stehen familiäre Gründe (zum Beispiel Betreuung von Enkelkind/Kind) anscheinend im Hintergrund. Aspekte, die sich auf das Arbeitsverhältnis beziehen (zum Beispiel „Arbeitskraft nicht mehr gefragt”), betrachtet nur ein geringer Teil der Befragten als (mit-)entscheidend für den Frühausstiegswunsch. 

Motivation für den frühen Ausstieg variiert je nach Berufsgruppe  

Motivation für den frühen Ausstieg variiert je nach Berufsgruppe

In einzelnen Berufsgruppen sind die einzelnen Gründe für einen frühen Ausstieg unterschiedlich gewichtig, zum Beispiel in Pflege- und Verwaltungsberufen (ebenfalls Abb. 1). Der insgesamt häufig genannte Grund „mehr freie Zeit haben” ist bei den Verwaltungsberufen mit 91 Prozent Zustimmung noch wichtiger als bei den Pflegeberufen (78 Prozent). Ähnliches gilt für das Erreichen ausreichender finanzieller Absicherung. 

Welche Gründe nennen umgekehrt Personen in Pflegeberufen häufiger? Deutlich sticht hervor, dass die Arbeit zu anstrengend ist (Pflege 73 Prozent, Verwaltung 38 Prozent) und gesundheitliche Probleme vorliegen (Pflege 54 Prozent, Verwaltung 39 Prozent). Die Betreuung von Enkelkindern/Kindern ist ebenfalls für deutlich mehr Personen in Pflegeberufen (41 Prozent) ausschlaggebend (Personen in Verwaltungsberufen 26 Prozent). An einem Geschlechtsunterschied der beiden Gruppen kann es nicht liegen, da der Frauenanteil mit ca. 85 Prozent identisch ist. 

Die unterschiedliche Bedeutung der Gründe lässt sich in plausibler Weise mit den Belastungen in den jeweiligen Berufen verbinden. Außerdem gibt sie wichtige Hinweise darauf, dass Maßnahmen zur Bindung älter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen berufsgruppenspezifisch entwickelt werden müssen. 

Weiterarbeiten unter flexibleren Bedingungen

Unter flexibleren Bedingungen könnten sich viele ein Weiterarbeiten vorstellen

Die gleiche Gruppe, die nach den Gründen für ihren frühen Austrittswunsch gefragt worden war, wurde auch gefragt, ob sie sich unter bestimmten Bedingungen ein längeres Arbeiten vorstellen könnte (s. Abb. 2). Tatsächlich bejahte der größte Teil, nämlich 78 Prozent, diese Frage. Im Mittel gaben die Befragten vier Bedingungen an. Für 66 Prozent dieser Personen wäre es ein Grund für das Weiterarbeiten, wenn sie frei bestimmen könnten, wie viel sie arbeiten. Am zweithäufigsten ist die Aussage „wenn ich frei bestimmen könnte, wann ich arbeite”. Die weiteren Aspekte (zum Beispiel „gute Bezahlung”, „nicht zu anstrengende Arbeit”) sieht jeweils circa die Hälfte der Befragten als möglichen Grund für Weiterarbeit an.  

Was folgt aus den Ergebnissen? Zum einen sollte gesellschaftlich und politisch anerkannt werden, dass unter den Babyboomern in Deutschland die „Kultur des Frühausstiegs“ andauert, die unter anderem durch die Frühverrentungsprogramme der 1970er- bis 1990er-Jahre geprägt wurde. Wichtige Gründe für den Wunsch nach einem frühen Ausstieg sind vermutlich Selbstbestimmung und das Gefühl eines erworbenen Anspruchs.

Die Frage des Erwerbsausstiegs ist für alle Beschäftigten eine sehr persönliche. Sie wird nicht nur durch die eigene Gesundheit beeinflusst, sondern ebenso durch berufliche und weitere private Gegebenheiten. Gesellschaftliche Notwendigkeiten infolge der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels stehen bei den Überlegungen einzelner Personen nicht im Vordergrund.  

Gleichzeitig zeigen viele ältere Beschäftigten eine klare Bereitschaft, doch länger als zunächst gewünscht erwerbstätig zu bleiben, und zwar dann, wenn die Arbeitsbedingungen verbessert würden, insbesondere durch einen höheren Entscheidungsspielraum. Die Motivation dieser Personengruppe sollte – neben ihrer Gesundheit und ihren Arbeitsbedingungen – noch mehr Aufmerksamkeit in Forschung, Betrieben und Politik erhalten.  

Dargestellt werden mögliche Bedingungen für eine Weiterbeschäftigung von älteren Beschäftigten, die bis max. 64 Jahre arbeiten möchten. Konkret wird der prozentuale Anteil der Nennungen für die Bedingungen/Gründe dargestellt, die in der zugrundeliegenden Befragung als mögliche Gründe angekreuzt wurden („ja, dies könnte ein Grund sein“).

Zu den Personen

Prof. Dr. med Hans Martin Hasselhorn ist Leiter des Fachgebiets „Arbeitswissenschaft“ an der Bergischen Universität Wuppertal.  

Dr. phil. Dipl.-Psych. Melanie Ebener gehört ebenfalls zum Team des Lehrstuhls „Arbeitswissenschaft“ an der Wuppertaler Universität. Zu ihren Tätigkeitsschwerpunkten gehört unter anderem die Studienkoordination der lidA-Studie. 

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