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Illustration Interview

Qualifizierungsangebote gezielt weiterentwickeln

Viele geringqualifizierte Menschen empfinden sich selbst als „abgehängt“. Um sie mit Weiterbildungsangeboten zu erreichen und Fachkraftpotentiale zu heben, brauchen wir die engagierte Zusammenarbeit aller Arbeitsmarktakteure, erläutert Roland Schüßler, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit, in seinem Gastbeitrag

  • Auf dem aktuellen Weiterbildungsmarkt erhalten geringqualifizierte Menschen viel zu selten die passgenaue Unterstützung, die sie bräuchten
  • Nötig ist daher eine engagierte arbeitsmarktpolitische Diskussion über die Weiterentwicklung von Lernformen und Lerninhalten bei Qualifizierungen und Weiterbildungen
  • Welche Fragen dabei im Vordergrund stehen sollten, erläutert Roland Schüßler, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit, in seinem Gastbeitrag

„Weiterbildung? Das ist nichts für mich. Weil ich keine Bildung habe.“ Eine Antwort, so auf den Punkt, das ist selten. Der Kollege einer Arbeitsagentur in Nordrhein-Westfalen, der dieses Gespräch erlebt hat, berichtete, dass er sich erst einmal aller Argumente entledigt fühlte. Die Chancen, die er und andere für den Kunden sahen, sah er selbst für sich nicht. Der Kunde bezweifelte, dass er über irgendeine Grundlage verfügen könnte, auf der sich eine positive Entwicklung für seine Zukunft starten ließe. 

© Bundesagentur für Arbeit - Roland Schüßler

Darin steckt gewaltiger gesellschaftlicher Zündstoff. Denn was dieser Mann zur Sprache brachte, dürfte nicht selten dem Eindruck vieler Kundinnen und Kunden von Arbeitsagenturen und Jobcentern entsprechen, die als „formal gering qualifiziert“ beschrieben werden. Die Beschäftigten der Arbeitsagentur waren überzeugt, dass ihm eine Weiterbildung nicht nur theoretisch nutzen, sondern er auch praktisch das Potenzial dazu hat. Er sah er sich jedoch eher als das, was die Öffentlichkeit häufig „abgehängt“ nennt. Doch wenn ein Teil unserer Gesellschaft den Eindruck hat, (vom anderen) nichts mehr erwarten zu können, laufen wir Gefahr, in das zu rennen, was man „gesellschaftliche Spaltung“ nennt. 

Für die Arbeitsmarktpolitik ist das eine der größten Herausforderungen. Und sie hat zwei Seiten. Es gehört zu den Erfahrungen von Menschen ohne Berufsabschluss, es besonders schwer am Arbeitsmarkt zu haben. Ihre Erwerbsbiografien sind häufiger von Arbeitslosigkeit geprägt, sie verlieren häufiger ihre Anstellung, sind dann länger arbeitslos und finden schwerer wieder zurück in Beschäftigung. Doch erleben wir gleichzeitig auch, was es für eine Wirtschaft bedeutet, wenn knapp ein Sechstel der Erwerbsfähigen aufgrund ihrer (fehlenden) Qualifikationen schrittweise aus einem Arbeitsmarkt ausscheidet, der zunehmend Fachkräfte verlangt. Ein solcher Arbeitsmarkt verzichtet auf wichtige Potenziale, wenn nicht tatkräftig gegengesteuert wird. 

Bestehende Qualifizierungsangebote

Bestehende Qualifizierungsangebote müssen kritisch hinterfragt werden  

Wir müssen uns als arbeitsmarktpolitische Partnerinnen und Partner daher über alle Bänke hinweg kritisch fragen, inwiefern die Angebote und Wege der Qualifizierung schon die individuelle Passgenauigkeit entwickelt haben, die wir benötigen. Erreichen wir damit auch die Menschen, die wir geringqualifiziert nennen? Oder erreichen wir vor allem nur die Gruppe derjenigen, die sich auf Grundlage einer (formalen) Qualifikation weiterentwickeln, gegebenenfalls auch umorientieren wollen? 

Wo könnte Verbesserungsbedarf bestehen? Da sind zum einen die individuellen Gründe, weshalb Menschen keine Berufsausbildung, manche die Schule nicht abgeschlossen haben. Ihnen können wir nicht leichtfertig sagen: „Macht jetzt einmal eine Qualifizierung“. In der Regel bedeutet das aktuell, dass wir ihnen zumuten, zwei Jahre die Schulbank zu drücken. Für manche wird sich das wie eine Strafe anhören. Insbesondere dann, wenn wir ihre bisherigen Leistungen im Berufsleben kaum würdigen. Denn das gehört auch zur Wahrheit: Viele von ihnen haben durchaus mehr als nur einfache Tätigkeiten ausgeübt. Sie haben Aufgaben erfüllt, die zum Portfolio von Fachkräften  gezählt werden.  

Besser wäre es, wir zeigen ihnen Perspektiven auf, welchen Weg sie gehen und realistisch schaffen können. Wir müssen ihnen zeigen, ob und wie sich dies mit ihrem Leben vereinbaren lässt. Klingen diese Perspektiven realisierbar, werden wir sie auch überzeugen, dass sich die Mühe für sie lohnt, den Weg der Weiterbildung einzuschlagen.  

Lernformen und -inhalte stehen auf dem Prüfstand

Lernformen und -inhalte stehen auf dem Prüfstand 

Um dorthin zu kommen, müssen wir über Lernformen sprechen. Wir haben während der Pandemie gelernt, dass auch andere Weisen des Lernens erfolgreich sein können. An diese Erfahrung können wir anknüpfen. Was wir brauchen, ist eine engagierte Diskussion aller arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Akteure. Wir müssen uns gemeinsam fragen, welche Angebote der Qualifizierung, der beruflichen Aus- und Weiterbildung, aber auch der Unterstützung es in Zukunft geben soll. Was erwarten wir von den Menschen? Wie können sie sich realistisch vielleicht schrittweise dahin entwickeln? Und auch die Frage muss erlaubt sein: Wie können Unternehmen ihnen entgegenkommen, sie unterstützen und fördern? Es steht also die Frage im Raum: Wie können wir berufliche Bildung so weiterentwickeln, dass auch die Menschen, die bereits im Erwerbsleben stehen, davon profitieren können? 

Daneben müssen wir auch über Lerninhalte sprechen. Welche Inhalte sollen die neuen Qualifizierungen haben? Wie fügt sich das Gelernte in die sich kontinuierlich verändernde Arbeitswelt ein? Es ist Zeit, dass wir, die arbeitsmarktpolitischen Partnerinnen und Partner, uns gemeinsam mit den Bildungsträgern an einen Tisch setzen, um ein zukunftsgerichtetes Weiterbildungsportfolio zu konzipieren.  

Betroffene brauchen realistische Wahlmöglichkeiten

Die betroffenen Menschen brauchen realistische Wahlmöglichkeiten

Resignation ist eine der größten Gegenspielerinnen von gelingender Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik. Machen wir uns nichts vor: Auch Menschen mit einem Berufsabschluss geraten in diese Sackgasse. Nicht nur Menschen wie der Kunde einer nordrhein-westfälischen Arbeitsagentur, über die allzu häufig als „Geringqualifizierte“ leichthin geurteilt wird. Deshalb sei folgendes Gedankenspiel erlaubt: Wenn wir mit den Menschen über ihre Stärken und Kompetenzen und nicht über fehlende berufliche Abschlüsse sprechen, einen individuellen Plan gemeinsam erstellen und mit ihnen Angebote finden, die ihnen erreichbar scheinen, die sie gern und motiviert in Angriff nehmen, wird es uns auch noch besser gelingen, sie für den Weg der Weiterbildung zu begeistern. Wir werden seltener an der Hürde Qualifikation scheitern. Es geht um realistische Wahlmöglichkeiten, die sie in ihrem persönlichen, potenziell stressigen Umfeld umsetzen können. Am besten in Abstimmung mit ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, die ebenfalls erkennen, dass auch sie davon schon in naher Zukunft profitieren. Im allerbesten Fall wird dies für alle selbstverständlich, so dass niemand mehr groß überzeugt werden muss.  

Dazu müssen wir an vielen Stellen neu ansetzen. Das beginnt bei der Frage, wo diese Menschen einen transparenten Überblick über alle Angebote finden und sich ergebnisoffen beraten lassen können. Einheitliche Anlaufstellen wären ein erster Schritt. Der nächste wäre die Diskussion über Lernformen und Inhalte der beruflichen Bildung. Sie muss gleichzeitig starten – am besten jetzt.  

Bei allen Veränderungen sollten besonders Menschen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, die als formal geringqualifiziert gelten. Darunter auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer  mit Migrationshintergrund  . Sie alle sind das, was Arbeitsmarktexperten „inländische Potenziale“ nennen. Wir helfen damit nicht nur den einzelnen Menschen, wir leisten damit auch einen effektiven Beitrag zur (Auf-)Lösung von Fachkräfteengpässen  . Und wir entschärfen damit gesellschaftspolitischen Zündstoff. 

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