Woran liegt in Ihren Augen die Zurückhaltung im Einsatz von Künstlicher Intelligenz und weiteren digitalen Technologien in der Personalarbeit?
Anna Kaiser: Ich denke, das hat viel mit der deutschen Mentalität zu tun. Wir neigen dazu, neuen Entwicklungen nicht zuallererst mit Neugier und freudiger Erwartung, sondern mit einer großen Portion Skepsis zu begegnen. In Deutschland herrscht immer noch eine Kultur des Verwaltens. Man macht die Dinge lieber zu 100 Prozent richtig, als einfach mal die richtigen Dinge zu tun, also das, was jetzt und heute getan werden muss – auch auf die Gefahr hin, unterwegs Fehler zu machen. Scheitern gilt hierzulande als etwas grundsätzlich Negatives. Deswegen ist das Bedürfnis groß, Dinge gegen alle Eventualitäten abzusichern, was natürlich in Zeiten des digitalen Wandels gar nicht möglich ist. Diese zurückhaltende, fast schon ängstliche Grundhaltung gegenüber der Digitalisierung lässt sich in allen Bereichen unserer Gesellschaft beobachten, auch in Unternehmen. Unternehmen verbauen sich damit viele Chancen, was gerade in Zeiten des akuten Fachkräftemangels in vielen Branchen existenzbedrohend sein kann.
Wie schätzen Sie das Potenzial von KI-Lösungen für die Arbeit im betrieblichen HR-Management in Deutschland ein?
Kaiser: Die „Great Resignation“ hat den Arbeitsmarkt weltweit aufgewirbelt. Viele Menschen sind in Bewegung und suchen nach neuen, besseren Arbeitsumfeldern, manchmal im gleichen Job, manchmal in ganz neuen Bereichen. Im Juli diesen Jahres ist der erste europäische „State of Candidate Experience”-Report von Phenom erschienen. Dieser hat gezeigt, dass die Bewerbungsprozesse in den meisten der 100 untersuchten Konzerne alles andere als optimal sind. Kandidat*innen, so das Fazit, werden aufgrund schlechter User Experiences bei der Jobsuche verschreckt, noch bevor sie mit einer Person aus dem Unternehmen gesprochen haben. Viele Defizite, die der Report aufzeigt, sind – zumindest auf den ersten Blick – technologischer Natur, so etwa die Tatsache, dass viele Karriereseiten weder mit smarten Suchfunktionen noch mit Chatbots oder anderen KI -basierten Orientierungshilfen arbeiten. Auf den zweiten Blick offenbart genau das aber auch ein fehlendes Verständnis für den Wandel in der Arbeitswelt insgesamt, und dabei insbesondere für kulturelle Veränderungen. Diese erfordern, dass Unternehmen hinterfragen, wie sie nicht nur mit neuen Kandidat*innen umgehen, sondern auch mit den bereits vorhandenen Talenten im Unternehmen. Organisationen, die tolle Mitarbeitende für sich gewinnen oder diese halten wollen, müssen verstehen (lernen), was die Menschen bewegt.
Arbeitgeber müssen heute mehr tun, als nur die üblichen „Kästchen abzuhaken“ und ihren Mitarbeitenden beweisen, dass sie geschätzt werden und wirklich dazugehören. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, eine „Employee Experience“ zu kultivieren, die sich für jede*n Mitarbeiter*in sehr persönlich anfühlt. Genau an dieser Stelle können KI und Automatisierung helfen, etwa durch personalisierte Jobempfehlungen und Weiterentwicklungsmöglichkeiten oder Mentoring- und Projektangebote, die auf die Fähigkeiten und Wünsche der Mitarbeitenden zugeschnitten sind. KI kann das HR-Team darin unterstützen, das Potenzial von Menschen zu entdecken und ihnen gute Erfahrungen im Unternehmenskontext zu ermöglichen. Eine Mitarbeiterin, die genau weiß, wie sie ihre Karriere vorantreiben kann, bleibt eher im Unternehmen. Ein HR-Manager, der von lästigen Verwaltungsaufgaben befreit ist, kann sich auf sinnvolle Interaktionen mit internen und externen Kandidat*innen konzentrieren. Gleichzeitig helfen ihm KI -gestützte Erkenntnisse, das wahre Potenzial seines Teams freizusetzen. Organisationen, die an fragmentierten, unpersönlichen Prozessen festhalten, werden das Rennen um die Einstellung, Bindung und Entwicklung der besten Köpfe verlieren.
Laut einer Studie des Bundesverbands der Personalmanager (BPM) und des Ethikbeirats HR Tech nutzen rund 30 Prozent der Unternehmen hierzulande bereits KI -basierte Technologie oder planen es in naher Zukunft. Die beliebtesten Einsatzfelder unter Personaler*innen sind demnach die Optimierung von Stellenanzeigen und Karriereseiten, die Analyse von Lebensläufen und der Einsatz von Chatbots, etwa um potentielle Kandidat*innen gezielt zu passenden Angeboten des Unternehmens zu lotsen. In der Personalentwicklung haben Skill Matching, interessenbasierte Jobempfehlungen und die interne Vernetzung von Mitarbeitenden in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Es sind eigene Stellen und Rollen für „People Analytics“ entstanden, der gezielten Auswertung der Daten, die durch die Interaktion zwischen Mensch und Technologie im Unternehmen gesammelt werden. Das ist ein positiver Trend, aber 30 Prozent ist definitiv zu wenig, wenn wir international mithalten wollen.
Anna Kaiser ist Gründerin und ehemalige CEO des Tech-Start-ups Tandemploy. Heute fungiert sie als Angel Investorin sowie Vice President EMEA, Innovation & Strategy beim globalen Tech-Unternehmen Phenom. Sie ist Mitglied verschiedener Gremien, darunter der Beirat Junge Digitale Wirtschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sowie der Ethikbeirat HR Tech. Seit Juni 2022 ist sie Mitglied im Rat der Arbeitswelt.
Welche Rolle nimmt der Ethikbeirat HR Tech dabei ein? Warum brauchen wir überhaupt ethische Richtlinien, um die Weichen für den Einsatz von KI richtig zu stellen?
Kaiser: Mit großen Datenmengen entsteht große Verantwortung – und die Frage, wie viel Entscheidungsmacht wir Algorithmen geben wollen und sollten. Wir müssen uns fragen, an welchen Punkten es gut ist, den „Faktor Mensch“ zugunsten objektiver Entscheidungen auszuhebeln und welche menschlichen Fähigkeiten wir dringender denn je brauchen, je weitreichender die Technologie unser Leben bestimmt. Die Herangehensweisen an dieses Thema sind sehr unterschiedlich. Junge Tech-Start-ups nutzen begeistert die neuen Möglichkeiten, die digitale Technologien bieten. Dabei wählen sie pragmatische Ansätze, um ihrer Verantwortung im Umgang mit Daten bestmöglich nachzukommen, etwa durch strenge Selbstverpflichtungen. Forderungen nach stärkerer Regulierung kommen dagegen unter anderem aus den Betriebsräten von Unternehmen. Mit dem Ethikbeirat HR Tech stellen wir die Potentiale von KI in den Mittelpunkt und formulieren davon ausgehend Handlungsempfehlungen für die verantwortungsvolle Nutzung von Mitarbeiterdaten.
Eine Umfrage unter Betriebsräten aus dem Jahr 2021 hat gezeigt, dass sich zwar 80 Prozent solche Leitlinien wünschen, die vorhandenen Empfehlungen aber nur vier Prozent der Betriebsratsmitglieder bekannt sind. Und eine grundsätzliche Frage bleibt: Wer kontrolliert die Einhaltung der Richtlinien? Wer hat das nötige Wissen, um immer komplexer agierende KI -Systeme zu durchdringen? Und wie kann Rechtssicherheit geschaffen werden in Bereichen, deren zukünftige Entwicklung kaum vorhersehbar ist, weil die Technologie der Politik Jahrzehnte voraus ist? – Das sind spannende Fragen, auf die wir Antworten finden müssen.