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Der Mindestlohn treibt den Tariflohn – jedoch nicht in allen Branchen

Seit seiner Einführung im Jahr 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn kontinuierlich angehoben, zum 1. Oktober 2022 stieg er auf 12 Euro pro Stunde. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf das Tarifsystem – speziell im Niedriglohnsektor – aus? Drei Fragen an die Tarifpolitikexperten Dr. Reinhard Bispinck und Dr. Hagen Lesch.

  • Die Einführung und Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohnes hat die Tariflohndynamik in vielen Niedriglohnbranchen deutlich positiv beeinflusst
  • Obwohl der Mindestlohn einige Tariflöhne treibt, ist sein Einfluss auf die allgemeine Tariflohndynamik gering. Denn es sind nur einige Branchen betroffen, und in diesen wurden vor allem die Tariflöhne der An- und Ungelernten vom Mindestlohn getrieben
  • Einfacher anzuwendende, weniger durchreglementierte Tarifverträge könnten eine Lösung sein, um die Reichweite des Tarifsystems künftig zu erhöhen

3 Fragen an Reinhard Bispinck, eh. WSI

Dr. Reinhard Bispinck über das Verhältnis zwischen Mindestlohn und Tarifvertrag

In welchem Verhältnis stehen Mindestlohn und Tarifvertrag zueinander? 

Reinhard Bispinck: Der gesetzliche Mindestlohn schließt eine Lücke in den bestehenden staatlichen Schutz- und Mindeststandards, die angemessene Arbeits- und Einkommensbedingungen für Abhängig Beschäftigte  äsicherstellen sollen. Sie sind ein zentrales Instrument des Sozialstaats, um das ungleiche Machtverhältnis zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten zu korrigieren. Solche staatlichen Schutz- und Mindeststandards gelten seit Jahrzehnten unbestritten etwa für die Arbeitszeit, den Urlaub, für Kündigungsschutz und -fristen und für den Arbeits- und Gesundheitsschutz  . Die entsprechenden Gesetze und Verordnungen wurden immer wieder angepasst und weiterentwickelt.

Vor dem Hintergrund des rasant gewachsenen Niedriglohnsektors in Deutschland wurde 2015 – nach jahrelanger politischer Kontroverse – mit dem gesetzlichen Mindestlohn erstmals ein Mindeststandard auch für das Arbeitsentgelt  eingeführt. Er betrug zu Beginn 8,50 Euro und stieg in mehreren Schritten auf zurzeit 12 Euro. Für den Mindestlohn gilt, wie grundsätzlich auch für die anderen Schutz- und Mindeststandards, dass er nicht durch andere Vereinbarungen unterschritten werden darf. Dies gilt für den individuellen Arbeitsvertrag  , aber auch für den kollektiven Tarifvertrag. Bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und auch bei den nachfolgenden Erhöhungen gab es immer wieder Tarifverträge, die in einzelnen Lohn- und Gehaltsgruppen den vorgeschriebenen Mindestlohn unterschritten. Das führte zumeist dazu, dass die Tarifverträge entsprechend angepasst wurden. In jedem Fall werden zu niedrige Tarifvergütungen durch den höheren Mindestlohn verdrängt.

Ein Ziel der Tarifpolitik ist es, Tarifentgelte zu vereinbaren, die erkennbar über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Das ist bislang in vielen Fällen auch gelungen.

Dr. Reinhard Bispinck
© Privat - Dr. Reinhard Bispinck

Dr. Reinhard Bispinck

eh. WSI

Dr. Reinhard Bispinck war viele Jahre lang wissenschaftlicher Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Das WSI ist die zentrale tarifpolitische Dokumentationsstelle der DGB-Gewerkschaften.

Wie wirkt sich der gesetzliche Mindestlohn auf die Tariflohndynamik/Tariflohnstruktur aus? Was spricht aus dieser Perspektive für oder gegen einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 12 Euro für ganz Deutschland?

Bispinck: Die Forschung hat für den Zeitraum 2015 bis 2019 eindeutig gezeigt, dass Einführung und Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohnes die Tariflohndynamik in vielen Niedriglohnbranchen deutlich positiv beeinflusst hat. Dies galt beispielsweise für das Bäckerhandwerk, das Hotel- und Gaststättengewerbe, die Systemgastronomie, die Landwirtschaft und das Friseurhandwerk. Teilweise bereits vor der Einführung, aber auch bei den weiteren Anhebungen kam es in einigen Tarifbereichen zu deutlichen Tarifsteigerungen. In der Folge wurde die Tariflohnstruktur in einigen Tarifbereichen gestaucht. Der Abstand zwischen den unteren und mittleren Vergütungsgruppen wurde deutlich geringer. Um dies zu korrigieren, vereinbarten die Tarifparteien in der Folgezeit teilweise weitere Tarifanhebungen. Aber nicht in allen Fällen wurde die alte Lohnstruktur komplett wiederhergestellt.

Die starke Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes in diesem Jahr (2022) um rund 22 Prozent von 9,82 Euro im Januar über 10,45 Euro ab Juli auf 12 Euro ab Oktober führt in einigen Tarifbereichen wieder zu einem erheblichen Anpassungsbedarf. Die teils deutlichen Tarifanhebungen in Niedriglohnbereichen, die in diesem Jahr bereits vereinbart wurden, zeigen, dass auch hier die Mindestlohnentwicklung zu einer dynamischen Tarifentwicklung führt.

Der gesetzliche Mindestlohn wirkt sich direkt und indirekt auch auf die tariflichen Branchenmindestlöhne aus, die aktuell in zehn Branchen bestehen. Mit einer Ausnahme – der Fleischwirtschaft – liegen sie über dem gesetzlichen Mindestlohn. Weitere Anhebungen sind in einigen Bereichen bereits vereinbart.

Die bisherigen positiven Erfahrungen mit der Einführung und Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohnes zeigen, dass es richtig war, einen einheitlichen Mindestlohn für ganz Deutschland einzuführen. Die bereits beobachtbaren tariflichen Anpassungen in West- und Ostdeutschland lassen erkennen, dass die Tarifparteien sich positiv auf den neuen Mindestlohnstandard von 12 Euro einstellen. Eine regionale Differenzierung spielt in der aktuellen Diskussion keine nennenswerte Rolle. Im Gegenteil: Angesichts des erheblichen Arbeitskräftemangels gerade auch in den Niedriglohnbranchen sind auch die Arbeitgeberverbände in Ostdeutschland erkennbar an Tarifsteigerungen interessiert. Die Fortführung einer Niedriglohnstrategie durch einen gespaltenen Mindestlohn wäre da kontraproduktiv.

Was ist notwendig, damit das Tarifsystem – auch unabhängig vom gesetzlichen Mindestlohn – stabil, eigenständig und zukunftsfest bleibt?

Bispinck: Der seit nunmehr über zwei Jahrzehnte anhaltende Rückgang der Tarifbindung ist die Achillesferse des Systems der Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Nur noch jede/r zweite Beschäftigte arbeitet in einem Betrieb mit Tarifbindung, und das klassische „deutsche Modell“ von Flächentarifvertrag und Betriebsrat  gilt nur noch für knapp ein Viertel der Beschäftigten. Eine Stärkung des Tarifsystems ist eine entscheidende Voraussetzung für eine soziale Gestaltung der Arbeitswelt. Dies ist zweifellos zuvorderst eine Aufgabe der Tarifparteien. Die Arbeitgeberverbände wären gut beraten, wenn sie die Flucht der Betriebe aus der Tarifbindung nicht weiter durch die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitgliedschaft) fördern würden.

Aber auch die Politik kann und sollte helfen: Zum einen durch eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Hier müssten die bestehenden Hürden – kompliziertes Verfahren, Veto-Position der Arbeitgeber – abgebaut werden. Zum andern durch (bessere) Tariftreueregelungen. Die Knüpfung der öffentlichen Aufträge an die Beachtung einschlägiger, repräsentativer Tarifverträge sollte ein verbindlicher Vergabestandard sein. Nicht nur die Bundesländer stehen in der Verantwortung. Auch die Bundesregierung muss handeln. Im Koalitionsvertrag haben sich die Ampel-Parteien festgelegt: „Zur Stärkung der Tarifbindung wird die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden.“ Diese Verpflichtung muss praktisch umgesetzt werden.

3 Fragen an Hagen Lesch, IW Köln

Dr. Hagen Lesch über das Verhältnis zwischen Mindestlohn und Tarifvertrag.

In welchem Verhältnis stehen Mindestlohn und Tarifvertrag zueinander?

Dr. Hagen Lesch: Als der Mindestlohn eingeführt wurde, hat er trotz einer auf zwei Jahre befristeten Übergangsregelung viele Tariflöhne verdrängt. Der Mindestlohn treibt damit den Tariflohn. Das gilt umso mehr, als die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen mehr als das gesetzliche Minimum fordern. Der Tariflohn soll darüber liegen, ansonsten machen Tarifverhandlungen aus Gewerkschaftssicht wenig Sinn. Damit wächst das Risiko, dass in arbeitsintensiven Niedriglohnbranchen wie der Landwirtschaft, dem Friseurhandwerk oder in der Systemgastronomie keine Tarifverhandlungen mehr geführt werden.

Eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) im Jahr 2019 hat gezeigt, dass der Mindestlohn den Verhandlungswillen in neun untersuchten Branchen nicht nachhaltig gestört hat. Den Tarifparteien in diesen vom Mindestlohn besonders betroffenen Branchen gelang es, die Tariflöhne an die Mindestlohnentwicklung anzupassen. Allerdings definierte der Mindestlohn – etwa im Friseurhandwerk Nordrhein-Westfalens oder in der Landwirtschaft – die untersten Lohngruppen.

Dr. Hagen Lesch
© Privat - Dr. Hagen Lesch

Mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro je Stunde ab Oktober 2022 sind neue Herausforderungen entstanden. Im schon genannten Friseurhandwerk hat das dazu geführt, dass die untersten Tariflohngruppen nicht mehr verhandelt wurden. Tariflöhne werden im jüngsten Tarifvertrag nur noch für Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung ausgewiesen. Damit ist der Mindestlohn faktisch an die Stelle von Tariflöhnen getreten. Außerdem ist der Druck auf die Tariflöhne bei 12 Euro noch größer als er es bei der Mindestlohneinführung von 8,50 Euro je Stunde im Jahr 2015 war. Aktuell determiniert die Mindestlohndynamik die Tariflohndynamik vielfach. Wie betroffene Branchen reagieren werden, bleibt abzuwarten. Einige Branchen wie die Gebäudereinigung oder die Arbeitnehmerüberlassung haben sogar vorzeitige Tarifverhandlungen geführt, um ein Verdrängen des Tariflohns durch den Mindestlohn zu verhindern. Das lässt hoffen, dass andere Branchen die Herausforderung ebenfalls annehmen und meistern.

Dr. Hagen Lesch

IW Köln

Dr. Hagen Lesch ist Leiter des Kompetenzclusters Arbeitswelt und Tarifpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Wie wirkt sich der gesetzliche Mindestlohn auf die Tariflohndynamik/Tariflohnstruktur aus? Was spricht aus dieser Perspektive für oder gegen einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 12 Euro für ganz Deutschland?

Lesch: Obwohl der Mindestlohn einige Tariflöhne treibt, ist sein Einfluss auf die allgemeine Tariflohndynamik gering. Das liegt einmal daran, dass nur einige Branchen betroffen sind. Und zum anderen daran, dass in diesen Branchen vor allem die Tariflöhne der An- und Ungelernten vom Mindestlohn getrieben wurden. Der Mindestlohn dürfte aber deutlich stärker auf die Lohndynamik in Betrieben gewirkt haben, wo keine Tarifbindung besteht. Entsprechend war vor allem bei weniger qualifizierten Arbeitnehmern eine überdurchschnittliche Lohndynamik zu beobachten. Das dürfte vielfach auch eine Stauchung der Lohnstruktur bewirkt haben. Dies zeigte sich auch in den Entgeltstrukturen der Tarifverträge der im Rahmen des oben genannten BMAS-Gutachtens untersuchten Branchen. Durch die notwendigen Tariflohnanhebungen im unteren Bereich der Entgeltgruppen wurde der finanzielle Spielraum für Erhöhungen bei den oberen Tariflohngruppen beschränkt. Die Tarifparteien streben zwar an, Stauchungen wieder auszugleichen. Das ist mit der Erhöhung auf 12 Euro aber schwieriger geworden und wird sich dadurch wohl auch noch länger hinziehen. Wir führen derzeit wieder ein Mindestlohnprojekt durch, in der wir dieser Frage ausführlich nachgehen werden. Auftraggeberin ist diesmal die Mindestlohnkommission, Partner wieder das WSI.

Was ist notwendig, damit das Tarifsystem – auch unabhängig vom gesetzlichen Mindestlohn – stabil, eigenständig und zukunftsfest bleibt?

Lesch: Ein Tarifsystem lebt von der Bereitschaft der Unternehmen, sich einer Tarifbindung zu unterziehen und von dem Willen Arbeitnehmern, sich kollektiv in Gewerkschaften zu organisieren. Beides ist derzeit eher mau. Die Tarifbindung der Betriebe sinkt kontinuierlich, gerade mal ein Viertel ist noch tarifgebunden. Da dies vor allem für größere Betriebe gilt, werden immerhin noch etwas mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt. Dabei ist nicht einmal jeder fünfte Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft. Die Tarifbindung ist viel höher, weil ein tarifgebundenes Unternehmen in der Regel allen Mitarbeitern den Tariflohn zahlt, egal, ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht. Wo Gewerkschaften aber schwach sind, neigen die Betriebe dazu, keine Tarifverträge anzuwenden. Insofern setzt ein stabiles Tarifsystem auch eine hohe Organisationsbereitschaft von Arbeitnehmern voraus. Versuche der Politik, die Reichweite von Tarifverträgen zu erhöhen – etwa durch mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen – packen das Problem nicht an der Wurzel. Es treten ja nicht mehr Betriebe in einen Arbeitgeberverband ein oder mehr Beschäftigte in eine Gewerkschaft, wenn ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird und damit auch für nicht-tarifgebundene Betriebe und Beschäftigte gilt. Es ist auch fraglich, ob das von der Bundesregierung angestrebte Bundestariftreuegesetz die Organisationsbereitschaft erhöht. Entscheidender als solche Ansätze wird meines Erachtens sein, ob die Tarifparteien künftig Tarifverträge aushandeln, die auch für kleine oder neu gegründete Betriebe eine Option darstellen. Um ein Start-up zu gewinnen, müssen flexiblere Regelungen her, etwa die Möglichkeit, einen größeren Teil des Gehalts variabel gestalten zu können. Auch Regelungen wie die 35-Stunden-Woche – so sehr die Tarifverträge auch Abweichungen davon zulassen – schrecken die meisten kleineren und mittleren Betriebe ab. Viele Tarifverträge sind auch einfach zu komplex. Sie enthalten Regelungen, die kleinere Betriebe nicht brauchen. Tarifverträge müssen künftig weniger regeln und einfacher anzuwenden sein. Eine modulare Tarifbindung, bei der bestimmte Tarifbausteine nicht für kleinere und mittlere Betriebe gelten, könnte ein Weg sein, um mehr Tarifbindung zu erreichen. Das müssen aber die Tarifparteien sorgfältig prüfen und aushandeln.

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