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Illustration Interview

„Die Crux ist, dass keine pauschalen Antworten zur Verfügung stehen“

Plattformarbeit  wirft für Juristen viele Fragen auf, denn sie ist arbeitsrechtlich schwer einzuordnen. Was das juristisch bedeutet, erklärt Isabell Hensel.

In den letzten Jahren hat sich Arbeit, die über Plattformen vermittelt wird, verändert und umfasst nun sehr unterschiedliche Formen. Die Frage, wie sich Crowd- und Gigwork  arbeitsrechtlich einordnen lässt, bringt für die Rechtsprechung vor Herausforderungen mit sich. Unser Interview mit Dr. Isabell Hensel von der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) geht diesen Fragen nach und zeigt, wo es weitere Arbeitsschutzregeln für Plattformarbeiter/-innen braucht.

Wie ist Plattformarbeit aus arbeitsrechtlicher Sicht einzuordnen? Handelt es sich um eine neue Form der Solo-Selbständigkeit?

Isabell Hensel: Das ist eine Frage, mit der sich sowohl Rechtsprechung, Politik als auch Sozial-, Organisations- und Arbeitsrechtswissenschaften in den letzten Jahren beschäftigen. Unbestreitbar ist, dass das für die Plattformarbeit  typische Dreieck zwischen Auftraggebenden, Auftragnehmenden und digitalen Plattformen die Unterscheidung zwischen abhängiger Arbeit in einem Betrieb und selbstständiger Arbeit am Markt – also zwischen Arbeits- und Wirtschaftsrecht – zunehmend erschwert. Hinzu kommt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Formen von Plattformarbeit  und Geschäftsmodelle zu beobachten ist, die das Dreieck ganz unterschiedlich nutzen und gestalten. Die Crux ist also, dass keine pauschalen Antworten zur Verfügung stehen.

Die rechtliche Alternative heißt zunächst, dass von Fall zu Fall beurteilt werden muss, ob die vom Recht angebotenen Definitionen für Arbeitnehmer/-innen (§ 611 a BGB) zutreffen. Die zunehmend damit befasste Rechtsprechung muss also je nach Sachlage und Plattformmodell entscheiden, welche Rolle die Plattformen einnehmen: Sind sie Vermittlerinnen von Arbeit oder koordinieren sie die Tätigkeiten „ähnlich“ „wie Arbeitgeberinnen“?

Isabell Hensel

Das Bundesarbeitsgericht hat das kürzlich überraschend für den Fall des einfachen Crowdworking (also online auszuführende Kleinstaufträge) bejaht. Ausschlaggebend für diese Entscheidung sind die Besonderheiten des algorithmischen Managements und der damit einhergehenden Steuerungs- und Marktmacht der Plattformen. Daraus folgt, dass z.B. Bewertungs- und Feedbacksysteme, Rankings ebenso wie Leistungskontrollen und eigene Qualifikationsvoraussetzungen der Plattformen (z.B. Levelsysteme) dazu führen können, dass die arbeitnehmertypischen Merkmale der Weisungsgebundenheit, Fremdbestimmung und auch der Eingliederung in einen Betrieb erfüllt sind.

Isabell Hensel

Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Dr. iur. Isabell Hensel ist akademische Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. im Bereich des Gesellschafts- und Arbeitsrechts, insbesondere Arbeit 4.0 und Plattformwirtschaft sowie Recht der Digitalisierung und Transnationalisierung.

Gibt es aus juristischer Sicht Unterschiede in der Bewertung der Arbeitsverhältnisse von Cloud- und Gigwork?

Hensel: Nimmt man als Referenzpunkt das Normalarbeitsverhältnis  , beschreiben Cloud- und Gigwork vergleichbare Entgrenzungsphänomene mit ähnlichen Gefahren für eine existenzsichernde Bezahlung oder die soziale Sicherung. Blickt man aber genauer hin, werden die technischen Koordinationsinstrumente unterschiedlich intensiv genutzt und erzeugen je nach Tätigkeitsform andere Bindungen. Auch adressieren sie unterschiedliche Beschäftigtengruppen, mit je eigenen Motiven und Ansprüchen an die Beschäftigung. Das führt zu unterschiedlichen Rechtsfolgen und Rechtsschutzbedürfnissen.

Zum Beispiel entstehen bei der ortsgebundenen, analogen Tätigkeit der Gigwork besondere Risiken für Übergriffe, weil die Beschäftigten meist allein unterwegs sind oder in fremde Haushalte müssen. Weil die Arbeit vor Ort an der persönlichen Arbeitskraft ansetzt, werden verstärkt persönliche und „sichtbare“ Eigenschaften wie Erscheinungsbild und Freundlichkeit über Bewertungen von Nutzer/-innen einbezogen. Das birgt ein enormes Diskriminierungspotential. Unklar ist meist auch, wer die Arbeitsrisiken wie Arbeits- und Verkehrsunfälle, Krankheitsfolgen und Schäden an den auf eigene Kosten eingesetzten Arbeitsmitteln wie das kaputte Fahrrad des Kuriers oder der Kurierin trägt.

Demgegenüber bringt die scheinbare Flexibilität und Mobilität des digital ausgeübten Crowdworking ganz andere Gefahren mit sich. Die globale Konkurrenzsituation führt zu einem Unterbietungsdruck bei Preisen und Arbeitsbedingungen. Die Entlohnung nach einer Art Preisausschreibungsmodell – nur die besten oder schnellsten Ergebnisse werden „prämiert“ – werden oft mit dem Verweis auf den Nebentätigkeitscharakter der sog. Mikrojobs bagatellisiert. Gleiches gilt für die Zeitentgrenzungen im Wettkampf um die besten Jobs im Auftragsangebot der Plattformen.

Noch mal ganz anders dürfte aber der Fall des komplexen Crowdworking gelagert sein, wobei die Grenzen dieser Typisierung etwa bei Designjobs verschwimmen. Grundsätzlich beschreibt komplexes Crowdworking kollaboratives und innovatives digitales Arbeiten, bei dem die Plattformen ihre Aufgabe darin sehen, eine produktive Arbeitsatmosphäre zu schaffen, um die sog. Schwarmintelligenz freizusetzen. Vertragsrechtliche Probleme drehen sich hier vor allem um eine freie Selbstständigkeit, z.B. den Schutz von Urheberrechten.

Reichen die jeweils bestehenden Arbeitsschutzregelungen für Plattformarbeitende aus oder sehen Sie juristischen Handlungsbedarf?

Hensel: Plattformarbeit  ist angesiedelt zwischen Autonomie und Kontrolle. Dieses „Zwischen“ ist schwer zu bestimmen. Die Frage ist, wie damit rechtspolitisch umzugehen ist. Dass dringender Handlungsbedarf besteht und die Plattformen in die Pflicht genommen werden müssen, ist unübersehbar.

Regelungsvorbilder für die bereits diskutierten Forderungen sind etwa das Heimarbeitsgesetz oder die Abgaberegelungen des Künstlersozialversicherungsgesetzes. Und es werden ja mit den Eckpunkten des BMAS „Faire Arbeit in der Plattformökonomie“ bereits konkrete Vorschläge gemacht, einen Beschäftigungsschutz für Plattformarbeitende  in einer Art „Crowdworking-Gesetz“ auf den Weg zu bringen, das zwischen Vertrags- und Arbeitsrecht angesiedelt ist und Regelungsinstrumente aus verschiedenen Rechtsordnungen aufgreift.

Diese rechtspolitische Dimension ist von zwei zentralen Überlegungen geleitet: zum einen geht es um die Schaffung von Rechtssicherheit. Die Einbeziehung in den Arbeitnehmer/-innenbegriff (§ 611 a BGB) kann nur eine kurzfristige Zwischenlösung sein. Die damit verbundene Bürde der individuellen gerichtlichen Rechtsdurchsetzung und die Aufweichung der Schutzstandards des Normalarbeitsverhältnisses sind auch Nachteile. Größtes Manko ist aber, dass die digitalen Geschäftsmodelle permanent fortentwickelt und an der Rentabilität der Plattformen ausgerichtet werden und dass dadurch nicht nur weiterhin eine bewusste und geschickte Umgehung des arbeitsrechtlichen Schutzes des/der Einzelnen durch die Plattformen droht. Durch das Alles-oder-Nichts-Prinzip des Arbeitsrechts werden geradezu neue Ausschlüsse produziert.

Zum anderen steht hinter den Regulierungsinitiativen die Idee, dass die Arbeit der Zukunft aktiv gestaltet werden muss. Erkennt man an, dass Plattformarbeit  die Art der Erwerbsarbeit grundlegend verändert und Plattformbeschäftigte zwar ähnlich aber anders schutzbedürftig sind als Arbeitnehmer/-innen, muss die Gestaltung der Plattformarbeit  unabhängig von der Statusfrage, ob Selbstständige oder Arbeitnehmer/-innen, betrieben werden. Der digitale Beschäftigtenschutz darf dabei nicht als Konkurrenz, sondern müsste als Ergänzung zum betrieblichen Arbeitnehmer/-innenschutz geschaffen werden. Ziel und grundrechtliche Pflicht muss es sein, einen ausreichenden, grenzüberschreitend wirkenden Schutz herzustellen, der die einseitige Macht der global agierenden Plattformen begrenzt und die gleiche, gesicherte und freie Teilnahme am Plattformbeschäftigungsmarkt erlaubt. Wichtige Aspekte sind hierbei Transparenz, Informationssymmetrie, Zugangsfreiheit, Diskriminierungsschutz, Schutz des Austauschverhältnisses und Festlegung von Vertragsgrenzen (sog. Klauselverbote), urheberrechtliche Ansprüche, spezielle Kollektivierungsmöglichkeiten sowie angepasste soziale Sicherungssysteme etc.

Dabei wird es auch darum gehen, die Debatte um „gute digitale Arbeit“ breit und mit gesellschaftlicher Resonanz zu führen. Dabei spielen die Gewerkschaften eine veränderte, aber zentrale Rolle.

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