Neue Technologien erfordern auch neue gesetzliche Rahmenregelungen, sagt Christian Poppe, Manager Global Public Policy and Government Affairs der Online-Bestellplattform für Essen Delivery Hero. Das binäre System „selbstständig versus abhängig beschäftigt“ habe sich überholt. Deshalb erhofft sich der Berliner DAX-Konzern Gesetzes-Innovationen, die Plattformen und Kurieren mehr Beinfreiheit gibt.
Plattformarbeit polarisiert. Die einen sehen darin eine innovative, neue Arbeitsform für eine „digitale Boheme“ – die anderen weisen auf die Herausbildung eines „digitalen Prekariats“ hin. Wie ist Ihre Bewertung?
Christian Poppe: Unsere Kuriere nehmen sich keinesfalls als digitales Prekariat wahr, das sehen wir im Alltag ganz deutlich. Im Gegenteil. Sie sehen sich als selbständige Kuriere, die sich ein paar Stunden zusätzlich zu ihrem Hauptjob etwas verdienen wollen, um Lücken zu überbrücken – und das bei hoher Flexibilität. Wir als Plattform, die global hunderttausende dieser Kurierjobs geschaffen hat, sehen in dieser neuen Form der Arbeit ein Riesenwachstumspotenzial und eine große Chance für Menschen, die jetzt in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten neue Verdienstmöglichkeiten suchen. Wir erleben, dass die Nachfrage bei Kunden in den vergangenen Monaten so derart gestiegen ist, dass auch die Nachfrage nach Arbeitskräften bei den Plattformen extrem gestiegen ist, und wir dadurch täglich neue Fahrer an unsere Plattform anschließen. Dabei gibt es nicht den typischen Kurier, sondern es ist eine sehr heterogene Gruppe. Manche wollen sich abends etwas dazuverdienen, andere sind Studenten, die sich das Studium damit teilfinanzieren und dann gibt es Menschen, die über einen gewissen Zeitpunkt exklusiv Kurierarbeit als Überbrückung machen, bis sie wieder einen anderen Job gefunden haben.
Wie wird sich die Plattformarbeit in Deutschland in Zukunft entwickeln?
Poppe: Die Deutschen haben zwar nicht mehr Geld in der Tasche, aber das Ausgabe-Verhalten hat sich verändert. Die Menschen wenden mehr Geld auf, um sich Services wie Lebensmittel und Getränke nach Hause bringen zu lassen. Das nennt sich Quick-Commerce. In der Pandemie haben die Plattformen einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die Restaurants in großer Zahl überlebt haben. Und das Nutzerverhalten hat sich auch durch die Pandemie dahingehend geändert, dass viele Erstnutzer wurden und relativ schnell dann auch regelmäßige Nutzer. Wir erwarten, dass dieses Nutzerverhalten trotz der Restaurant-Wiedereröffnungen weiterhin wachsen wird. Denn die Menschen merken, dass es doch ein hoher Convenience-Faktor ist. Gleichzeitig fragen auch Restaurants und Retailer stark nach, an die Plattform angeschlossen zu werden. Denn für sie ist das ein zusätzlicher Vertriebskanal; sie bekommen einen Zugang zu einer großen neuen Kundengruppe. Das grundsätzliche Nutzerverhalten hat sich also hin zu den Plattformen gewandelt, deshalb wird das auch über die Pandemie hinaus nachhaltig sein.
Wie bewerten Sie das Risiko einer Verdrängung abhängiger Beschäftigung durch die Plattformarbeit?
Poppe: Wir sehen auf keinen Fall eine Verdrängung. Die Gründe, warum die Menschen diese Jobs wahrnehmen, sind ganz andere. Von welcher abhängigen Beschäftigung reden wir hier? Die gute alte Vollzeitstelle zwischen 37,5 und 40 Stunden in der Woche kann das nicht sein. Denn bei unseren Jobprofilen ist diese die Ausnahme. Unsere Kuriere wollen nicht 40 Stunden die Woche arbeiten, sondern abends zu einer Peak-Zeit spontan und flexibel arbeiten. Mal vier Stunden am Tag oder mal nur dreimal die Woche. Das heißt: Bei diesen Menschen gibt es gar kein Interesse, sich in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis mit 40 Stunden pro Woche zu begeben. Wir müssen in Deutschland die abhängige Beschäftigung neu denken. Denn neue Technologien erfordern auch neue gesetzliche Rahmenregelungen. Das binäre System ‚selbständig versus abhängig beschäftigt‘ hat sich überholt. Das Motto „Wenn ich selbständig bin, trage ich sämtliche unternehmerische Risiken“ wird Selbständigen zum Nachteil.
Welche Faktoren machen Plattformarbeit für Betriebe und Erwerbstätige attraktiv?
Poppe: Flexibilität ist ganz klar die Nummer Eins. Nummer Zwei ist der Verdienst. Es ist so, dass wir in unseren Märkten deutlich über dem dortigen Mindestlohn liegen. Es ist eine Kombination aus einem Stundenlohn und einem ‚task pay‘; pro erledigtem Auftrag bekommen die Fahrer eine Bonus-Summe. Hinzu kommt ein niedrigschwelliger Zugang zu diesen attraktiven Verdienstmöglichkeiten. Kein dreimonatiges Bewerbungsverfahren, keine drei Job-Interviews, kein Chef oder Boss. Und man kann sich die Arbeitszeiten aussuchen!
Christian Poppe ist als Manager Global Public Policy und Government Affairs beim global operierenden Berliner DAX-Unternehmen Delivery Hero tätig. In dieser Rolle steuert er die politische Interessenvertretung des Unternehmens in rund 50 Märkten weltweit und verantwortet den Dialog mit öffentlichen Institutionen zu Fragen der Regulierung des Digitalsektors sowie insbesondere zum Themenkomplex New Work und Platform Work.
Sind die Rechte der Erwerbstätigen auf Plattformen ausreichend geschützt? Wie sähe eine aus Ihrer Sicht nachhaltige Plattformstrategie aus?
Poppe: Die Rechte sehen schon gut aus, aber wir glauben, dass noch Luft für Verbesserungen da ist. Auch wir als Plattform wollen mehr tun und mehr Verantwortung übernehmen. Die veralteten Definitionen von Selbständigkeit und gesetzlichen Rahmenbedingungen halten uns aber in vielen Dingen zurück. Zum Beispiel bei Versicherungen, Ausrüstung und Trainings – alles Dinge, die wir gerne global ausrollen würden in unseren derzeit rund 50 aktiven Märkten. Doch je mehr wir da etwas machen, desto höher ist das Risiko, dass unsere Arbeitskräfte dann doch starr eingeordnet werden als abhängig Beschäftigte – mit den ökonomischen Folgen für unser Geschäftsmodell, die die Logistik zu teuer und unflexibel machen würden. Wir hätten Mindeststunden, wir hätten Kuriere, die wir bezahlen müssten, auch wenn wir gar keine Nachfrage hätten. Nachmittags um 15.50 Uhr wird keine Essensbestellung eingehen; dann brauchen wir auch keine Kuriere. Da erhoffen wir uns eine regulatorische Entwicklung hin zu einem Procedere, das Plattformen mehr Beinfreiheit gibt, mehr zu tun für die Kuriere. Und da sehen wir das Thema im ersten Schritt bei der Europäischen Union und hoffen auf eine europaweit harmonisierte Lösung. Idealerweise eine Direktive, die besagt: Wir wollen die flexiblen Arbeitsmodell bewahren und ausbauen. Es muss möglich werden, dass auch Plattformen soziale Absicherung leisten können. Dass Fonds aufgesetzt werden können, in die zum Beispiel alle Plattformen einzahlen, woraus dann auch mal im Zweifel ein Training oder ein Extra-Urlaub oder eine Krankenversicherung für selbständige Kuriere möglich wird. Wir glauben, dass der Begriff der Selbständigkeit, der komplett alles Risiko allein trägt, heute nicht mehr zeitgemäß ist. Der Selbständige allein sollte nicht alle Risiken tragen! Die jetzige Gesetzgebung basiert auf einer Zeit, wo diese Beschäftigungsverhältnisse nicht existiert haben und nicht vorherzusehen waren. Doch derzeit dominiert ein verzerrtes Bild die Debatte: David gegen Goliath. Auf der einen Seite der kleine Kurier als Selbstständiger – auf der anderen Seite die großen Plattformen, die ihre Kuriere schlecht behandeln und das große Geld machen. Das entspricht nicht der Wahrheit; die Plattformen machen derzeit alle noch kein Geld. Wir hoffen, dass wir mit viel Dialog da künftig etwas ändern können. Deshalb wollen wir eng mit dem Gesetzgeber zusammenarbeiten, einen regulatorischen Rahmen zu schaffen, der für alle funktioniert.
Gibt es schon Länder, die das vorbildlich machen und Beschäftigungsverhältnisse tatsächlich neu denken?
Poppe: Relativ weit ist Österreich. Die haben ein sehr interessantes Hybrid-Modell, wo der Kurier sich aussuchen kann, ob er ein freier Dienstnehmer oder ein echter Dienstnehmer werden möchte. Ein echter Dienstnehmer ähnelt unserem abhängigen Beschäftigungsverhältnis und das freie Dienstnehmer-Dasein ähnelt deutlich mehr einem Freelancer-Modell. Man bietet dem Fahrer die Auswahl. Das freie Dienstnehmer-Modell erlaubt den Plattformen deutlich mehr, für die Selbständigen zu tun als bei uns in Deutschland, was dazu führt, dass die Kombination aus Flexibilität und hohe Vergütung und hohe soziale Absicherung in dem freien Dienstnehmer-Modell leistbar wird, weswegen sich die riesige Mehrheit der österreichischen Kuriere sich dafür entscheidet. Das ist für uns ein sehr progressives Modell, was auch in anderen westeuropäischen Ländern funktionieren könnte.