Arbeitswelt-Portal: Wie viele Menschen in Deutschland pflegen neben ihrem Beruf Angehörige?
Greta Ollertz: Wir gehen allein in Nordrhein-Westfalen von rund 600.000 Menschen aus, die das tun. Sie kümmern sich zum Beispiel um die körperliche Pflege, Arztbesuche, seelische Unterstützung oder Einkäufe. Der Großteil der Menschen, die arbeiten und privat pflegen, kümmert sich um ältere Personen – also um Eltern oder Schwiegereltern. Aber über 20 Prozent der Betroffenen pflegen auch ihren Partner oder ihre Partnerin. Und 13 Prozent haben pflegebedürftige Kinder.
Michaela Evans-Borchers: Bundesweit gehen wir davon aus, dass es rund 2,5 Millionen Berufstätige gibt, die neben ihrer Erwerbstätigkeit Angehörige pflegen. Und zwei Drittel der Personen, die den Hauptteil der Pflege übernehmen, sind weiblich und im erwerbsfähigen Alter. Wir reden also in großem Umfang über Menschen, die prinzipiell erwerbsfähig sind, arbeiten können und wollen. Zum Teil stehen sie aber eben gleichzeitig vor der Herausforderung, das mit familiärer Pflege und manchmal zusätzlich noch der Kindererziehung, zusammenzubringen.
Arbeitswelt-Portal: Was bedeutet das für den Arbeitsmarkt?
Evans-Borchers: Aus der Forschung wissen wir, dass gerade bei Frauen lange Pflegezeiten oft mit geringer Erwerbsbeteiligung einhergehen. Wenn sie Angehörige pflegen, müssen sie ihre Arbeitszeit häufig reduzieren oder können sie nur mit einer geringfügigen Beschäftigung kombinieren. Bei Männern ist es ein bisschen anders gelagert: Da zeigt sich, dass Männer, die Angehörige pflegen, während dieser Pflegephase häufiger arbeitslos sind. Das ist keine gute Ausgangssituation, denn es reduziert zum Beispiel auch spätere Rentenansprüche.
Arbeitswelt-Portal: Und für die Unternehmen bedeutet es, dass ihnen wichtige Fach- und Arbeitskräfte entgehen.
Ollertz: Absolut. Wenn mich ein Unternehmen fragt, warum es sich mit dem Thema befassen sollte, dann sage ich zum einen: Weil schon jetzt jede zehnte Mitarbeiterin und jeder 13. Mitarbeiter bei Ihnen pflegt, auch wenn die Person das vielleicht noch nicht erzählt hat. Wer Angehörige pflegt, braucht auf der Arbeit Unterstützung. Zum anderen merke ich, dass die Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels selbst sehr interessiert sind, sich mit dem Thema zu befassen. Wenn wir uns nicht stärker um die pflegenden Angehörigen bemühen, geht ein großes Potential auf dem Arbeitsmarkt verloren. Entweder die Menschen brennen aus, weil man sie nicht unterstützt – oder sie gehen, weil sie Job und Pflege nicht vereinbaren können. Das konnten Unternehmen sich vor zehn Jahren vielleicht noch leisten, jetzt aber definitiv nicht mehr.
Evans-Borchers: Auch das wichtige Thema Weiterbildung wird oft durch Sorgearbeit gehemmt. Damit haben wir uns als Rat der Arbeitswelt viel beschäftigt. Sorgearbeit ist einer der Haupt-Hinderungsgründe für Menschen, an betrieblicher Weiterbildung teilzuhaben. Also nicht nur die Frage, wie man in den Arbeitsmarkt zurückkommt, sondern ob man sich im aktuellen Job fit machen kann für den Wandel in der Arbeitswelt. Und da ist eben ein Befund: Die Pflege von Angehörigen erschwert das erheblich.
Arbeitswelt-Portal: Gibt es Beschäftigtengruppen, die besonders betroffen sind?
Ollertz: Grundsätzlich sind erstmal die meisten betroffen. Denn die meisten haben Eltern, die irgendwann ins pflegebedürftige Alter kommen. Erwerbstätige ab 50 sind entsprechen häufiger betroffen, Frauen stärker als Männer. Allerdings ist es auch so, dass Männer sich oft nicht als pflegende Angehörige identifizieren, obwohl sie es sind. Besonders herausfordernd ist die Vereinbarkeit von Beruf und informeller Pflege für Menschen, die im Schichtbetrieb oder mit Kundenkontakt arbeiten. Die haben es schwerer, denn sie können nicht mal eben ein Telefonat führen oder ihre Arbeit unterbrechen. Und auch Menschen in Care-Berufen. Wir wissen, dass etwa Erzieherinnen und Erzieher oder Pflege-Fachpersonen auch in der eigenen Familie oft einen großen Teil der Pflege-Verantwortung tragen.
Evans-Borchers: Dementsprechend kann man schon sagen, dass es Branchen gibt, die besonders betroffen sind. Bleiben wir einfach kurz bei den Pflegeberufen selbst: Da wissen wir, dass in den nächsten zehn Jahren 500.000 Menschen in den Ruhestand gehen. Diese Personen kommen also absehbar in den Bereich, wo sie Angehörige pflegen müssen. Und es gibt natürlich eine unterschiedliche Geschlechterverteilung in Branchen und Berufen. Ich vermute, dass in den typischen Männerberufen die Sensibilisierung für das Thema noch nicht ganz so weit fortgeschritten ist wie in Branchen und Berufen, in denen viele Frauen arbeiten.
Arbeitswelt-Portal: Nennen Sie ein Beispiel: Wie sieht die Belastung typischerweise aus, wenn jemand einen Job hat und sich parallel um Angehörige kümmert?
Ollertz: Es geht oft um vermeintliche Kleinigkeiten. Ich denke etwa an eine Frau, deren Mutter an Demenz erkrankt ist. Sie arbeitet in der Produktion und ist während der Arbeit nicht telefonisch erreichbar, weil sie das Handy eigentlich nicht mit in die Produktionshalle nehmen darf. Wenn die Eltern krank werden, ist das oft kein Thema, das man direkt mit den Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen bespricht. Wichtig ist deshalb, dass Führungskräfte Möglichkeiten schaffen, über so etwas zu sprechen. In dem Fall war die Lösung dann auch einfach: Die Frau durfte ihr Handy mit in die Halle nehmen. Und dieses Gefühl, im Notfall erreichbar zu sein, hat sie enorm entlastet.
Evans-Borchers: Umgekehrt ist es natürlich auch für Betriebe eine Herausforderung, mit spontanen Ausfällen umzugehen. Wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin ausfällt, weil sie eben Pflege organisieren muss, belastet das mitunter ganze Teams. Ganz häufig ist es so, dass die pflegende Person ihre Arbeitszeit reduzieren muss. Das heißt, die Arbeit muss umverteilt werden im Betrieb.
Arbeitswelt-Portal: Ist die Belastung von pflegenden Berufstätigen, die im Homeoffice arbeiten können, grundsätzlich geringer?
Ollertz: Den Arbeitsort flexibel wählen zu können ermöglicht viel, klar. Aber es gibt auch ein großes Gefahrenpotenzial. Wenn jemand 40 Stunden arbeitet und zu Hause einen schwer erkrankten Vater hat, hilft auch das Homeoffice nicht. Da kann man sich nicht um beides gleichzeitig kümmern. Und: Zur Arbeit zu gehen kann für viele pflegende Angehörige sogar eine psychische Entlastung sein. Sie kommen aus der anstrengenden Situation zuhause raus, können auch mal über etwas anderes sprechen. Da kann es für die mentale Gesundheit sehr wertvoll sein, einen Betrieb zu haben, in den man gehen kann.
Arbeitswelt-Portal: Welche Lösungen gibt es, um pflegende Berufstätige besser zu unterstützen?
Ollertz: Flexibilität einzuräumen ist das eine. Zudem sollten solide Vertretungsregeln organisiert werden. Es gibt ein ganz tolles Beispiel aus dem Einzelhandel, von einem kleinen Unternehmer, der eine Springer-Lösung organisiert hat. Es gibt eine Minijobberin, die vorrangig dafür angestellt ist, in Situationen, wo es knapp wird, einzuspringen. Solche Sicherheiten geben zu können geht auch in kleinsten Teams. Wichtig ist auch, ein Vertrauensverhältnis zu schaffen – also Mitarbeitenden zu signalisieren, dass sie über dieses Thema sprechen können. Das muss nicht zwangsläufig die Chefin oder der Chef persönlich machen: Es gibt schon seit Langem die Qualifizierung von betrieblichen Pflege-Guides. Das sind Menschen im Betrieb, die zwei Tage geschult werden und danach Ansprechperson für die Kolleginnen und Kollegen sind. Die haben ein offenes Ohr und wissen auch, wo man Hilfe bekommen kann. Das ist für Arbeitgeber eine sehr gute Investition.
Evans-Borchers: Unternehmen sollten auch überlegen, wie sie Führen in Teilzeit fördern könne. Es geht darum, Strukturen zu schaffen, die eine bessere Vereinbarkeit von Job und Privatleben ermöglichen. Wir müssen weg von der individualisierten Perspektive, dass jeder und jede das Problem allein lösen muss.
Ollertz: Um den Unternehmen die Angst zu nehmen: Es geht gar nicht darum, ein riesiges Angebot nur für Mitarbeitende mit Pflegeverantwortung zu schaffen. Vieles hilft genauso denjenigen, die sich um die Kindererziehung kümmern müssen. Sich grundsätzlich um Vereinbarkeitsangebote zu bemühen, hilft schon viel.