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Illustration Interview

„Inklusion ist auch die Überwindung des Defizitansatzes“

Inklusion  umfasst für Boehringer Ingelheim die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, die ihre Kompetenzen ins Unternehmen einbringen. Ein Interview mit dem Inklusionsbeauftragten.

Olaf Guttzeit, Inklusionsbeauftragter des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim und Vorstandsvorsitzender des UnternehmensForums, einem Zusammenschluss von Unternehmen zur Förderung von Inklusion, ist davon überzeugt, dass Vielfalt  in Teams Innovationen fördert. Inklusion umfasst aus seiner Sicht die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen genauso wie die von Menschen mit anderen Merkmalen der Vielfalt. Im Interview spricht er darüber, wie die Stärken und Fähigkeiten der Einzelnen für Boehringer Ingelheim zum Wettbewerbsvorteil werden und welche Rolle Inklusion im Wandel der Arbeitswelt hat.

©Boehringer Ingelheim - Olaf Guttzeit

Welche Rolle spielt Inklusion für Sie beim Thema Fachkräftesicherung?

Olaf Guttzeit: Wir sehen in verschiedenen Bereichen, dass es schwierig ist, geeignete Personen für offene Jobs zu finden. Einige Unternehmen nehmen Menschen mit Behinderungen am Bewerbermarkt deshalb immer stärker in den Blick, und es gibt mehr und mehr Anbieter, die Unternehmen ihre Beratung hierzu anbieten. In der Pandemie zeigt sich leider aber auch, dass der Anteil von Menschen mit einer Schwerbehinderung  , die aufgrund des Wegfalls von Tätigkeiten in die Arbeitslosigkeit gegangen sind, hoch ist. Wie auch das Inklusionsbarometer der Aktion Mensch immer wieder bestätigt, verweilen Menschen mit Teilhabebedarf dort im Vergleich häufig länger – auch wenn sie gut qualifiziert sind. Dieses Problem müssen wir als Gesellschaft gut im Blick behalten. Bei Boehringer Ingelheim ist uns der Aspekt der Vielfalt sehr wichtig: Diversity  sehen wir als den Mix, den Inklusion wirken lässt. Es geht also um eine Kultur, die die Vielfalt zur Wirkung bringt. Ich bin dabei fest davon überzeugt, dass die Vielfalt der Perspektiven und Gedanken Innovationen fördert und wir einen Wettbewerbsvorteil haben, wenn wir diese Vielfalt als selbstverständlich ansehen und nutzen. Dazu ein kleines Beispiel, wie sich eine Kultur durch Vielfalt verändern kann: Eine Kollegin mit Trisomie 21 hat in einer Teambesprechung gebeten „Sag das noch mal, ich hab das nicht verstanden“, nachdem eine Führungskraft berichtet hatte. Einige der anderen im Team waren froh, dass sie gefragt hatte – auch sie hatten es nicht verstanden, sich aber nicht zu fragen getraut.

Sie haben einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention veröffentlicht. Wie hat der Aktionsplan Ihr Unternehmen verändert?

Guttzeit: Wir haben uns schon früh mit dem Thema Inklusion beschäftigt. Es hing aber ein bisschen vom Einzelengagement der Beauftragten ab, ob wirklich etwas passiert ist, das Thema Barrierefreiheit war noch nicht selbstverständlich. Als Rheinland-Pfalz dann als eines der ersten Bundesländer einen Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention veröffentlicht hat, haben wir uns vertieft damit beschäftigt, welche Perspektiven einem Unternehmen aus dem Thema der UN-Konvention erwachsen können. Wir haben dann geschaut, wo wir uns mit dem Thema neu beschäftigen müssen.

„Nach acht Jahren Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention haben wir eine Kultur der gleichberechtigten Teilhabe und die Überwindung des Defizitansatzes erreicht.“

Was sich nach acht Jahren daraus entwickelt hat, ist eine Kultur der gleichberechtigten Teilhabe und die Überwindung des Defizitansatzes. Die Angst vor Benachteiligung und Stigmatisierung ist vorher in allen Dimensionen von Diversity  erkennbar gewesen – ob es der Vater als Führungskraft war, der sich nicht getraut hatte, um drei Uhr zu gehen und sein Kind aus der Kita zu holen oder die Kollegin mit Brustkrebserkrankung, die sich nicht outete. Je tiefer wir uns mit der Entwicklung der Vielfaltskultur beschäftigen, umso mehr merken wir, dass es allen hilft, wenn ich so sein kann wie ich bin. Das ist der Kerngedanke der UN-Konvention: Erst gesellschaftliche Barrieren behindern Menschen mit Beeinträchtigungen. Also müssen wir diese Barrieren abbauen – für alle Verschiedenheitsmerkale.

Stärken und Fähigkeiten Einzelner werden zum Mehrwert für alle

Herausgekommen ist ein Ansatz, den Sie als ressourcenorientiert bezeichnen. Wie nutzen Sie die Stärken und Fähigkeiten des Einzelnen im Unternehmensalltag?

Guttzeit: Unser Ansatz im Unternehmen konzentriert sich grundsätzlich auf die Ressourcen – also die Kompetenzen, die Qualifikationen und Stärken einer Person. Ich hatte mal ein Vorstellungsgespräch mit einem Rollstuhlfahrer. Der hat gesagt: „Ich habe schon Probleme gelöst, die Sie überhaupt nicht kennen“. Er hat seine Problemlösekompetenz, seine Fähigkeit im Umgang mit Enttäuschungen und Nicht-Können in den Mittelpunkt gestellt. Das hat mir gezeigt: Wenn wir auf den Bedarf gucken, den jemand hat, damit sie oder er ihre oder seine Fähigkeit einbringen kann, profitieren wir von Vielfalt. Dieser Bedarf ist beim Rollinutzer gesetzlich mit einem Grad der Behinderung (GdB) anerkannt, aber ich habe dann einen automatischen Türöffner, der auch dem Trolleynutzer hilft. Ich kann also mit Universal Design einen Mehrwert für alle bieten.

Barrierefreiheit umfasst mehr als räumliche Barrieren: Wie sind Sie sozialen Barrieren, Vorurteilen oder Ausgrenzung in der Belegschaft begegnet?

Guttzeit: Wir machen zwei Mal im Jahr in der erweiterten Geschäftsführung Workshops zu Diversity  -Themen. Auch das Thema unbewusste Vorurteile gehört dazu. Unsere mehr als 2.500 Führungskräfte dafür zu sensibilisieren, war ein wesentlicher Baustein.

„Viele können sich nicht vorstellen, wie die Zusammenarbeit mit Menschen mit Teilhabebedarf aussieht – hier schaffen wir durch Begegnungen Normalität.“

Denn in Einzelgesprächen hören wir, dass die Offenheit für Vielfalt da ist, viele aber nicht wissen, wie die Zusammenarbeit aussieht. Wer noch nie mit einem blinden Menschen zusammengearbeitet hat, kann sich nicht vorstellen, wie man sich – in normalen Zeiten – die Hand gibt. Wir schaffen Normalität, zum Beispiel haben wir einen Coach, der keine Arme hat, und laden unterschiedlichste Leute ein, um Begegnungen zu schaffen. Vorbehalte gibt es aber auch bei den Bewerberinnen und Bewerbern: Unsere Auswertung aus dem vorletzten Jahr zeigt, dass von 35.000 Bewerbungen knapp 300 einen Grad der Behinderung angegeben – der tatsächliche Anteil der Menschen mit einem Grad der Behinderung liegt weit darüber. Die allermeisten haben keine sichtbaren Einschränkungen. Und ein Großteil sieht sich selbst nicht in dieser Kategorie. Auch deshalb kommen wir mit dem ressourcenorientierten Ansatz am besten weiter.

Olaf Guttzeit

Boehringer Ingelheim

Olaf Guttzeit ist Inklusionsbeauftragter und Head of CoE Disability Management beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim. Zudem ist er Vorstandsvorsitzender des UnternehmensForums, ein branchenübergreifender Zusammenschluss von Konzernen und mittelständischen Firmen, der sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen einsetzt.

Vermuten Sie Vorbehalte auch als Grund dafür, dass 40.000 Unternehmen ihrer gesetzlichen Pflicht nicht nachkommen, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen, und stattdessen die Ausgleichsabgabe zahlen?

Guttzeit: Kein Mensch zahlt gerne eine Strafabgabe. Sicher gibt es Unternehmen, die aus Vorurteilen keine Menschen mit schweren Behinderungen beschäftigen. Aber es gibt viele Unternehmen, die das sehr wohl tun, in denen die Menschen mit schweren Behinderungen den Ausweis aber nicht beantragen und es vielleicht gar nicht angeben – auch weil es häufig gar keine Auswirkungen auf ihre Tätigkeit hat und aus ihrer Sicht Privatangelegenheit ist. Arbeitgebende haben also eine Pflicht, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, Arbeitnehmende haben aber keine Pflicht, eine schwere Behinderung anzuzeigen, was auch gut und richtig ist. Wir erfüllen das Ziel von fünf Prozent in einigen Geschäftsbereichen übrigens auch nicht, obwohl wir seit Jahren über gezielte Ansprache, die Agentur für Arbeit, den Integrationsfachdienst u. a. Gas geben. Wir haben die Zahl in den vergangenen zehn Jahren zwar auf 700 Beschäftigte fast verdoppelt. Aber die Gesamtzahl der Beschäftigten hat sich auch um ein Drittel erhöht. Da bin ich schon froh, dass wir unsere Quote überhaupt halten konnten.

Wie der Wandel der Arbeitswelt Inklusion beeinflusst

Wie beeinflussen Trends wie Digitalisierung, demografischer und struktureller Wandel, die die Arbeitswelt wandeln, das Thema Inklusion?

Guttzeit: Es wird nach wie vor Tätigkeiten im gewerblichen Bereich geben, auch wenn der Dienstleistungsbereich sich in der Wertschöpfung weiter ausbaut. Aber ich sehe, dass einfache Tätigkeiten durch Digitalisierung und Automatisierung wegfallen. Der Wandel in der Arbeitswelt wird einen Teil der Beschäftigten treffen. Vornehmlich Menschen mit niedriger Qualifikation, hohem Alter, gesundheitlicher Beeinträchtigung oder Leistungswandlung. Auch in unserem betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement wird es zunehmend schwieriger, die Menschen in Beschäftigung zu halten. Die Herausforderung ist also, früh in Qualifikation zu investieren und in Flexibilität – dazu kann gehören, Hospitationen in anderen Unternehmensbereichen ab einem bestimmten Alter verpflichtend zu machen. Als Chance sehe ich, die Tätigkeiten zu segmentieren. Ich bin häufig in den Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetrieben unterwegs. Dort beobachte ich, dass die Führungskräfte extrem gut darin sind, komplexe Arbeitsprozesse in einzelne Arbeitsschritte so zu unterteilen, dass der Mensch, den sie gerade mit seinem speziellen Teilhabebedarf vor sich haben, genau diesen Arbeitsschritt ausüben kann. So könnten wir auch komplexe Berufsbilder zerlegen. Was der Wandel für Menschen mit Behinderungen insgesamt bedeutet, ist dagegen kaum zu beantworten: In der Gruppe habe ich hoch qualifizierte Akademikerinnen und Akademiker, genauso aber auch geringer qualifizierte Beschäftigte in der Produktion.

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