Am Anfang geht es aufwärts. Das gilt nicht nur häufig für die ersten Jahre der individuellen Selbstständigkeit, sondern auch für die allgemeine Entwicklung der Selbstständigkeit in Deutschland seit 1991. Bis 2012 klettert die Kurve langsam, aber durchaus stetig ihrem Höhepunkt entgegen. 2012 erreicht sie diesen – und sinkt seitdem Stück für Stück ab.
Was auf der Infografik wie ein angenehmer Wanderspaziergang in den sommerlichen Alpen aussieht, mag hierzulande so manche Statistikerin beschäftigten. Denn der Verlauf der Selbstständigkeit hängt maßgeblich mit tieferliegenden politischen Entscheidungen zusammen.
Rückblick Jahrtausendwende: Der starke Anstieg der Selbstständigkeit erklärt sich vor allem durch die schlagzeilengriffige „Ich-AG“ der damaligen schwarzen und rot-grünen Regierungen, die diese Förderung eingeführt hatten, um zum Beispiel Langzeitarbeitslose zurück in den Arbeitsmarkt zu holen (Brenke und Beznoska 2016; Jansen 2020; Schulze Buschoff et al. 2017).
„Der erste Schub [an Solo-Selbständigen] setzte 1995 ein; maßgeblich war eine starke Ausweitung der Förderung vormals arbeitsloser Existenzgründer durch die Arbeitsverwaltung. Dasselbe traf auch auf den zweiten Schub zu; infolge verstärkter Förderung der sog. „Ich-AGs“ kam es von 2002 bis 2005 zu einer starken Gründungswelle, die danach mehr und mehr abebbte.“
Während 1991 rund 1,3 Millionen Arbeitskräfte als solo-selbstständig registriert waren, lag die entsprechende Zahl 2012 bei rund 2,4 Millionen – ein Plus von 1,1 Millionen Personen (knapp 85 Prozent). Ein wahrer Gründerboom folglich. Im gleichen Zeitraum hat sich auch der relative Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen von 8,6 auf 10,7 Prozent erhöht.
Die Bedeutung der institutionellen Förderung der Selbständigkeit von ehemals Langzeitarbeitslosen zeigt sich insbesondere am Zuwachs an Personen, deren Solo-Selbständigkeit in Form der „Ich-AG“ durch die Arbeitsagenturen und Jobcenter gefördert wurde. So stiegen die Zahlen der jährlich auf diesem Wege Geförderten zwischen den Jahren 2002 und 2006 auf mehr als 300.000 Personen an (Maier und Ivanov 2018).
In den Nullerjahren setzte sich der Anstieg der Selbstständigkeit in Deutschland fort. Ich-AGs brummten. Eine Erklärung dafür bieten die unterschiedlichen Motive, die bei der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit die wesentliche Rolle spielen. So lässt sich die Gruppe der Selbstständigen in zwei Untergruppen unterteilen:
Die erste Gruppe besteht aus denjenigen, die aus der Not („necessity driven“), also in der Regel aus der Arbeitslosigkeit heraus, eine selbstständige Tätigkeit aufgenommen haben. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich demgegenüber um Personen, bei denen vorrangig der Wunsch nach Selbstverwirklichung („opportunity driven“) im Vordergrund steht (Bögenhold 2019; Reynolds 2017).
In den Zehnerjahren lässt sich weniger von einem Boom sprechen – denn seit 2012 ist die Zahl der Selbstständigen leicht rückläufig. Mehr als jede zweite Selbstständigkeit bedeutete 2020 zudem ein Ein-Mann- bzw. Ein-Frau-Unternehmen. Mit 54,3 Prozent hatte 2020 die Mehrheit der Selbstständigen keine weitere Arbeiternehmerin oder Arbeitnehmer. Zum Vergleich: Im Jahr 1991 waren es noch unter 45 Prozent.
Zu erklären ist der leichte Rückgang mit einer guten und einer schlechten Nachricht. Die Gute: Der Wirtschaftsmotor in Deutschland brummte zwischen 2012 und 2019 – wer aus der Not heraus in die Selbstständigkeit abgebogen war, konnte nun wieder auf einen festen Arbeitsplatz umschwenken. Denn davon gab es wieder mehr (Brenke und Beznoska 2016). Demgegenüber stand die motivierten Selbstständigen, die nicht aus der Not, sondern aus der Lust heraus in die Solo-Selbstständigkeit steuerten. Auch sie konnten sich dank der guten Wirtschaftslage über volle Auftragslisten freuen (Schulze Buschoff 2018). Vor allem hochqualifizierte Selbstständigen machten den Anstieg aus. Demnach war die Entwicklung vorrangig von Personen mit einer Hochschul- oder Meisterausbildung geprägt, die sich vermehrt selbstständig machten, während der Anteil geringqualifizierter Solo-Selbstständiger, zum Beispiel Langzeitarbeitslose, zurückging. Auf lange Sicht bedeutete dies im Ergebnis, dass der Anteil der Hochqualifizierten von 39,3 Prozent im Jahr 2000 auf über 47 Prozent im Jahr 2019 anstieg, während der Anteil der Geringqualifizierten im gleichen Zeitraum von 11,1 Prozent auf 6,8 Prozent sank (s. Indikator).
Und dann die schlechte Nachricht: Das berühmte C-Wort, das alle seit 2019/2020 beschäftigt.
Seit Beginn der Zwanzigerjahre steht die Situation der Selbstständigen im Fokus der Öffentlichkeit. Corona sorgte für einen Stopp des Konjunkturmotors: Lieferketten stockten, Beschäftigte traten kürzer, größere Ausgaben wurden aufgeschoben. Im schlimmsten Fall wurde die Tätigkeit auf Grund der fehlenden Perspektive aufgegeben (Lesen sie mehr dazu in unserem Beitrag: Selbstständig während Corona – warum Frauen und junge Unternehmen am stärksten betroffen sind). Die Folge: ein deutlicher Einbruch bei der Zahl der selbstständig Erwerbstätigen im Jahr 2020 aufgrund der angespannten Lage.
Der Zukunftsausblick ist in diesem Fall schwierig: Ob die starke Betroffenheit während der Pandemie einen bleibenden Eindruck bei der Entwicklung der Selbstständigkeit hinterlässt und weitere Veränderungen herbeiführt, bleibt abzuwarten. Eine Einschätzung dazu gibt der Arbeitsmarktexperte Alexander Kritikos (DIW) in unserem Interview.